Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
auf dem Badezimmerboden auszubreiten, bis es schließlich gegen Alices elegante Schuhe schwappte. Verzweifelt versuchte sie, den Spülungshebel hochzuziehen, doch das Wasser lief unaufhörlich weiter und breitete sich aus, und hätte Alice nicht die Matte davorgelegt, wäre es unter der Tür hindurch und in den nächsten Raum geflossen.
    Endlich, nach einigen langen Sekunden, stoppte die Spülung wieder, aber als Alice in die Schüssel blickte, war die Tomate, völlig intakt, immer noch da. Immerhin breitete sich der See auf dem Boden nicht weiter aus. Mattia hatte ihr einmal erklärt, dass sich verteilendes Wasser ab einem bestimmten Moment zur Ruhe kommt, nämlich dann, wenn die Oberflächenspannung so stark ist, dass sie es wie eine Folie zusammenhält.
    Alice warf noch einmal einen Blick auf das Desaster, das sie da angerichtet hatte, klappte dann, sich dem Unheil fügend, den Klodeckel herunter und setzte sich drauf, nahm die Hände vor die geschlossenen Augen und begann zu weinen. Sie weinte um Mattia, um ihre Mutter, ihren Vater, sie weinte wegen der Überschwemmung, vor allem aber um sich selbst. Leise rief sie nach Mattia, als erhoffe sie sich seine Hilfe, doch der Name klang fremd und erstarrte auf ihren Lippen.
    Als Fabio an die Badezimmertür klopfte, rührte sie sich nicht.
    »Alles in Ordnung, Ali?«
    Durch das Mattglas der Tür konnte Alice seine Umrisse erkennen. Leise, ohne dass er es hörte, zog sie die Nase hoch und räusperte sich, um die vom Weinen belegte Stimme freizubekommen.

    »Ja, ja«, rief sie. »Einen Moment noch, ich komme sofort.«
    Verwirrt blickte sie sich um, als verstehe sie tatsächlich nicht, wie sie in dieses Bad gelangt war. An mindestens drei verschiedenen Stellen tropfte es noch aus der Kloschüssel auf den Boden, und einen Augenblick lang wünschte sich Alice, in diesem wenige Millimeter hohen See ertrinken zu können.

Scharf gestellt (2003)

30
    Eines Morgens um zehn war sie im Laden von Marcello Crozza aufgetaucht und hatte mit einer zur Schau getragenen Entschlossenheit, die sie drei Runden um den Häuserblock gekostet hatte, erklärt: Ich möchte Fotografin werden. Kann ich bei Ihnen als Auszubildende anfangen? Crozza, der an der Entwicklungsmaschine saß, nickte, drehte sich zu ihr um und blickte ihr direkt in die Augen: Aber im Moment kann ich dich nicht bezahlen. Er brachte es nicht fertig, Such dir was anderes zu ihr zu sagen, denn genauso wie sie hatte er viele Jahre zuvor auch angefangen, und die Erinnerung an dieses hoffnungsvolle Bangen war alles, was von seiner Leidenschaft für die Fotografie übrig geblieben war. Und trotz aller Enttäuschungen, die er danach erlebt hatte, wollte er dieses Gefühl niemandem vorenthalten.
    Meistens ging es um Urlaubsfotos. Drei-, vierköpfige Familien, am Meer oder in Touristenstädten, Arm in Arm auf dem Markusplatz oder unter dem Eiffelturm, mit abgeschnittenen Füßen und den immer gleichen Posen. Mit idiotensicheren
Kameras geknipste Bilder, unscharf oder überbelichtet. Alice schaute sie schon gar nicht mehr an: Sie entwickelte sie und steckte sie dann in die Tüte mit dem gelb-roten Kodak-Markenzeichen.
    Die meiste Zeit hatte sie im Laden zu stehen, belichtete Filme mit vierundzwanzig oder sechsunddreißig Aufnahmen in ihren Plastikdöschen in Empfang zu nehmen, den Namen des Kunden auf den Abschnitt zu schreiben und Morgen können Sie sie abholen zu sagen, den Kassenbon auszudrucken und den Kunden mit Vielen Dank, auf Wiedersehen zu verabschieden.
    An Samstagen hatten sie manchmal auch Hochzeiten. Um Viertel vor neun holte Crozza sie dann zu Hause ab, stets in demselben Anzug ohne Krawatte, denn schließlich war er der Fotograf und kein Gast.
    In der Kirche waren dann die beiden Scheinwerfer aufzubauen. Bei einem der ersten Male hatten Alice einen davon fallen lassen; er war ihr auf die Altarstufen geknallt und in die Brüche gegangen. Zu Tode erschrocken hatte sie Crozza angeschaut, der eine Miene machte, als sei ihm einer der Glassplitter ins Bein gefahren, aber nur sagte: Halb so wild, räum ihn erst mal zur Seite.
    Er mochte sie, ohne dass er genau hätte sagen können, warum. Vielleicht weil er keine eigenen Kinder hatte oder weil er, seit Alice bei ihm arbeitete, um elf in die Bar gehen und die Enalotto-Zahlen überprüfen konnte, und weil sie ihn dann, wenn er in den Laden zurückkam, anlächelte und fragte: Was ist, sind Sie ein reicher Mann? Vielleicht auch, weil sie dieses steife Bein hatte und ihr die Mutter

Weitere Kostenlose Bücher