Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
ein Splitter hatte sich ihm dieser Name, Fabio, der so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, in den Kopf gebohrt, und er wollte nur noch, dass Alice ihn endlich allein ließ.
Durchs Fenster sah er, dass der Abend klar war und dass wohl ein warmer Wind ging. Die mattweißen Pollen der Pappeln schwebten wie beinlose Insekten im Laternenlicht herum.
Alice öffnete die Tür, und er stand auf. Mit zwei Schritten Abstand begleitete er sie zum Ausgang. Um einen Moment Zeit zu gewinnen, schaute sie an der Wohnungstür noch einmal zerstreut in ihrer Handtasche nach, ob sie nichts vergessen hatte. Dann murmelte sie Okay und ging hinaus. Bevor sich die Fahrstuhltüren wieder schlossen, sagten sie sich Ciao , ein Ciao, das nichts zu bedeuten hatte.
28
Mattias Eltern saßen vor dem Fernseher. Seine Mutter hatte die Knie bis unters Nachthemd angezogen, während sein Vater die Beine, mit der Fernbedienung auf dem Oberschenkel, ausgestreckt auf dem niedrigen Tischchen vor dem Sofa liegen hatte. Ihren Gruß hatte Alice nicht erwidert, ja sie schien sie überhaupt nicht bemerkt zu haben.
Mattia war hinter das Sofa getreten.
»Ich hab mich entschieden. Ich werde annehmen«, sagte er in ihrem Rücken.
Adele führte eine Hand zur Wange und suchte verwirrt den Blick ihres Mannes. Der drehte sich nur ein wenig zu ihm um und betrachtete seinen Sohn, wie ein Vater einen erwachsenen Sohn betrachtet.
»Gut«, sagte er.
Mattia ging zurück in sein Zimmer, nahm den Brief vom Bett und setzte sich an den Schreibtisch. Er konnte es spüren, konnte es wahrnehmen, wie sich die Welt ausbreitete, wie sie unter seinen Füßen ihren Lauf beschleunigte, und einen
Moment lang hoffte er, dass dieses elastische Gewebe riss und ihn in die Tiefe stürzen ließ.
Er tastete nach dem Schalter der Schreibtischlampe und machte Licht. Dann suchte er sich den längsten der vier in einer Reihe gefährlich nahe an der Schreibtischkante liegenden Bleistifte aus, holte aus der zweitobersten Schublade einen Spitzer hervor und bückte sich über den Papierkorb, um den Bleistift zu spitzen. Zum Schluss blies er den feinen Staub fort, der sich auf dem konischen Ende des Stifts angesammelt hatte. Ein frisches Blatt lag schon vor ihm bereit.
Er platzierte die linke Hand mit dem Handrücken nach oben auf dem Papier, spreizte die Finger und ließ die nadelartige Graphitspitze darübergleiten. Eine Sekunde lang hielt er inne, versucht, sie sich an der Stelle, wo die beiden dicken Adern unter dem Mittelfinger zusammenflossen, ins Fleisch zu bohren. Dann zog er sie langsam zurück und atmete tief durch.
Auf das Blatt schrieb er: To the kind attention of the Dean .
29
Mit voller Beleuchtung in Treppenhaus, Flur und Wohnzimmer, empfing Fabio sie an der Wohnungstür. Indem er die Plastiktüte mit der Eispackung darin entgegennahm, ergriff er ihre Hand und küsste Alice auf die Wange, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Das Kleid steht dir wunderbar, sagte er, denn das dachte er tatsächlich, und kehrte an den Herd zurück, um sich weiter um das Abendessen zu kümmern, ohne sie aber deswegen aus den Augen zu lassen.
Aus der Stereoanlage erklang Musik, die sie nicht kannte und die nicht dazu gedacht war, gehört zu werden, sondern nur um ein perfekt durchdachtes Drehbuch zu vervollständigen. Zwei brennende Kerzen, die Weinflasche bereits geöffnet und der Tisch sorgfältig für zwei Personen gedeckt, die Messer mit den scharfen Seiten nach innen, was hieß, dass der Gast willkommen war, wie seine Mutter es ihn von klein auf gelehrt hatte. Eine makellos weiße Tischdecke ohne Falten lag auf, und die Servietten waren zu Dreiecken mit exakt übereinanderliegenden Kanten gefaltet.
Alice nahm Platz und zählte die aufeinander gestapelten leeren Teller vor ihr, um ungefähr abzuschätzen, wie viel es zu essen geben würde. An diesem Abend hatte sie sich, bevor sie losging, lange im Bad eingeschlossen und die Handtücher angestarrt, die Soledad jeden Freitag wechselte. Auf der marmornen Ablage fand sie das Kästchen mit den Schminksachen ihrer Mutter und bediente sich daraus. Im Halbdunkel schminkte sie sich, und bevor sie den Lippenstift nahm, schnupperte sie daran, ein Geruch, der sie an nichts erinnerte.
Dann gönnte sie sich das Ritual, vier verschiedene Kleider anzuprobieren, obwohl sie eigentlich schon seit dem Vortag, wusste, dass sie das Kleid anziehen würde, das sie auch bei der Firmung von Ronconis Sohn getragen hatte und das ihr Vater damals
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