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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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sich auf die Lippen und deutete schüchtern auf eine Tomate, die er, Gabel und Messer wie eine Zange einsetzend, auf ihren Teller hob.
    »Und was noch?«
    »Das reicht«, sagte Alice.
    »Das ist nicht dein Ernst. Du hast doch noch gar nichts gegessen. Und außerdem, bei dem vielen Wein…«
    Alice sah ihn von unten herauf an, und einen Moment lang hasste sie ihn zutiefst, so wie sie ihren Vater hasste, ihre Mutter, Soledad und alle, die jemals ihre Bissen gezählt hatten.
    »Gut, die noch«, gab sie sich geschlagen, indem sie auf die Aubergine zeigte.
    Fabio nahm sich von allem etwas und lächelte sie zufrieden an, bevor er sich über die Teile hermachte. Mit der Gabelspitze nahm sich Alice ein wenig von der Füllung und kostete sie. Neben dem Fleisch schmeckte sie sofort auch Ei, Ricotta und Parmesan und überschlug eilig, dass ein ganzer Fastentag nicht ausreichen würde, um das wieder wettzumachen.
    »Schmeckt’s dir?«, fragte Fabio und lächelte sie mit halbvollem Munde an.
    »Ja, wunderbar«, antwortete sie.

    Sie fasste sich ein Herz und biss in ein Stück Aubergine, verdrängte den Ekel und aß weiter, Bissen für Bissen, ohne ein Wort zu sagen. So vertilgte sie die ganze Aubergine, aber kaum hatte sie die Gabel neben den Teller gelegt, würgte es sie im Hals. Fabio redete und schenkte noch mal Wein nach. Alice nickte und spürte bei jeder Bewegung, wie die Aubergine in ihrem Bauch auf und ab wippte.
    Fabio hatte bereits alles verzehrt, während auf Alices Teller immer noch die Tomate lag, rot und prall, mit diesem ekligen Mischmasch gefüllt. Es wäre aussichtslos gewesen, sie in Stückchen zu teilen und in der Serviette verstecken zu wollen; mit Sicherheit wäre Fabio darauf aufmerksam geworden, denn zwischen ihren Tellern standen nur die beiden Kerzen, die bereits zur Hälfte heruntergebrannt waren.
    So war es ein Segen, als auch die zweite Flasche Wein plötzlich leer war und sich Fabio schwankend erhob, um die dritte zu holen. Er hielt sich den Kopf und rief, an diesen gewandt: »Mensch, jetzt halt endlich mal still!« Alice lachte. Fabio schaute in den Kühlschrank und zog alle Hängeschränke auf, fand aber keinen Wein mehr.
    »Anscheinend haben meine Eltern alle Flaschen vernichtet«, sagte er. »Ich muss runter in den Keller.«
    Er brach in grundloses Gelächter aus, in das Alice einstimmte, obwohl ihr beim Lachen der Bauch wehtat.
    »Beweg dich nicht von der Stelle«, befahl er ihr, indem er streng den Zeigefinger hob.
    »Okay«, antwortete Alice und hatte eine Idee.
    Kaum war Fabio draußen, nahm sie die fettige Tomate zwischen zwei Finger und trug sie mit ausgestrecktem Arm, sie von der Nase fernhaltend, weil sie den Geruch nicht mehr ertragen konnte, ins Bad hinüber. Sie schloss sich ein und
klappte die Klobrille hoch, und die saubere Schüssel lächelte sie an, so als wolle sie sagen: Keine Sorge, ich erledige das für dich.
    Alice warf einen prüfenden Blick auf die Tomate. Sie war ziemlich groß, vielleicht hätte sie sie doch zerschneiden sollen, aber sie war auch weich, und so sagte sie sich: Was soll schon passieren, und warf sie einfach hinein. Es machte »Platsch«, und das Wasser spritzte fast bis zu ihrem himmelblauen Kleid hinauf. Die Tomate sank zu Boden und verschwand zur Hälfte im Abfluss.
    Wie ein reinigender Regenguss schoss das Wasser ein, als sie die Spülung betätigte, doch anstatt abzufließen, begann es die Schüssel zu füllen, während ein unheilvolles Gluckern aus den Tiefen des Klosetts aufstieg.
    Erschrocken wich Alice zurück, und ihr steifes Bein schwankte, sodass sie Mühe hatte, nicht zu stürzen. Sie starrte auf den Wasserspiegel, der stieg und stieg und dann plötzlich zum Stillstand kam.
    Jetzt setzte das Siphongeräusch ein. Die Schüssel war bis zum Rand gefüllt. Die Oberfläche des fast klaren Wassers zitterte leicht, während unten, auf dem Grund, immer noch die Tomate zu sehen war, die an derselben Stelle wie zuvor feststeckte.
    Entsetzt und gleichzeitig von einer eigenartigen Neugier ergriffen, starrte Alice sie bestimmt eine Minute lang an. Das Geräusch des Schlüssels, der im Schloss der Wohnungstür umgedreht wurde, riss sie aus der Erstarrung. Eilig ergriff sie die Klobürste und tauchte sie, angewidert das Gesicht verziehend, ins Wasser ein. Doch die Tomate dachte gar nicht daran, sich zu bewegen.
    »Was mach ich denn jetzt?«, murmelte sie.

    Fast unbewusst betätigte sie erneut die Spülung, und diesmal begann das Wasser überzufließen und sich

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