Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
fehlte, so wie ihm eine Ehefrau, und weil sie sich durch diese Verluste ein wenig ähnlich waren. Oder auch, weil er sicher war, dass sie es bald
leid sein und er abends wieder allein das Rollgitter herunterziehen würde, um dann nach Hause zu gehen, wo niemand auf ihn wartete, mit leerem und doch so schwerem Kopf.
Doch nach anderthalb Jahren war Alice immer noch bei ihm. Mittlerweile hatte sie den Schlüssel und war daher morgens schon vor ihm da, und wenn Crozza eintraf, fand er sie vor dem Laden vor, wo sie den Gehweg fegte und dabei mit der Signora vom Lebensmittelgeschäft nebenan plauderte, zu der er selbst noch nie mehr als Guten Tag gesagt hatte. Er bezahlte sie schwarz, fünfhundert Euro im Monat, doch wenn sie zusammen eine Hochzeit fotografierten und er sie abends nach Hause fuhr und sie mit dem Lancia mit laufendem Motor vor dem großen Tor des Hauses der Familie Della Rocca standen, nahm er sein Portemonnaie vom Armaturenbrett und holte noch mal fünfzig Euro extra für sie hervor, die er ihr mit den Worten reichte: also bis Montag.
Manchmal zeigte ihm Alice ihre Aufnahmen und fragte ihn nach seinem Urteil, obwohl mittlerweile beiden längst klar war, dass er ihr nichts mehr beibringen konnte. Dann setzten sie sich an die Theke, und Crozza betrachtete die Fotos, hielt sie ins Licht und machte eine Bemerkung zu den Belichtungszeiten oder darüber, wie die Tiefenschärfe noch besser auszunutzen wäre. Mittlerweile durfte sie seine Nikon benutzen, wann immer sie wollte, und heimlich hatte er bereits beschlossen, sie ihr zu schenken, wenn ihre Zeit bei ihm enden würde.
»Samstag heiraten wir«, sagte Crozza, seine rituellen Worte, wenn sie den Auftrag für eine Hochzeit hatten.
Alice war gerade dabei, sich die Jeansjacke überzuziehen, und Fabio musste jeden Moment vorbeikommen, um sie abzuholen.
»Okay«, sagte sie, »und wo?«
»In der Kirche Gran Madre. Und der Empfang ist dann auf dem Anwesen der Familie am Hügel. Bei den Reichen und Schönen …«, fügte Crozza mit einem leicht verächtlichen Unterton hinzu, was er sogleich bereute, weil er ja wusste, dass Alice auch von dort kam.
»Hm-hm«, murmelte sie. »Wie heißt denn die Familie?«
»Sie haben uns die Anzeige geschickt. Ich hab sie irgendwo da reingelegt«, antwortete Crozza, indem er auf die Ablage unter der Kasse deutete.
Alice kramte nach einem Haargummi in ihrer Handtasche und band sich einen Pferdeschwanz, während Crozza von der Seite aus zu ihr hinüberschielte. Einmal hatte er beim Masturbieren an sie gedacht, wie sie, nachdem sie das Rollgitter heruntergelassen hatte, im Halbschatten des Ladens kniete, sich danach aber so schlecht gefühlt, dass er nicht zu Abend essen konnte, und sie am nächsten Morgen nach Hause geschickt mit den Worten: Heute nimmst du dir mal einen Tag frei. Ich will hier mal meine Ruhe haben.
Während sie weiter auf Fabio wartete, blätterte Alice die unter der Theke gestapelten Papiere durch, aber mehr aus Langeweile als aus echtem Interesse. Sie fand den Umschlag mit der Heiratsanzeige, steif und großformatig, machte ihn auf, und der Name sprang ihr sofort ins Auge, auf der Innenseite der Karte, in einer goldenen, vielfach verschnörkelten Kursivschrift.
Ferruccio Carlo Bai und Maria Luisa Turletti Bai geben die Trauung ihrer Tochter Viola bekannt …
Alices Blick verschleierte sich derart, dass sie nicht weiter lesen konnte. Plötzlich hatte sie einen metallischen Geschmack im Mund, und als sie schluckte, war ihr, als rutsche ihr noch einmal der Fruchtgummi aus der Umkleidekabine durch die
Speiseröhre. Sie steckte die Karte wieder zurück und wedelte eine Weile nachdenklich mit dem Umschlag hin und her.
»Kann ich da allein hingehen?«, fragte sie schließlich, Crozza weiter den Rücken zuwendend.
Der schob gerade die Registrierkasse zu. »Was meinst du?«
Alice drehte sich zu ihm um und blickte ihn mit weit aufgerissenen und entflammten Augen an, und Crozza musste lächeln, so schön waren sie.
»Ich hab doch jetzt eigentlich alles gelernt, oder«, sagte Alice und trat auf ihn zu. »Das schaffe ich schon. Irgendwann muss ich ja mal anfangen, alleine zurechtzukommen.«
Crozza blickte sie skeptisch an, während sie sich, ihm unmittelbar gegenüber, mit den Ellbogen auf der Theke aufstützte und ihren Oberkörper vorreckte. Weniger als eine Handbreit war sie jetzt von seiner Nase entfernt, und dieses Schimmern in ihren Augen flehte ihn an, Ja zu sagen und keine Erklärungen zu
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