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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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geschehen. Danach würde sie nicht mehr die Kraft dazu haben. Dann würde sie sich endlich ganz, ohne schlechtes Gewissen, ihren Übersetzungen überlassen, den Büchern, deren Seiten sie Tag und Nacht sezierte, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen und die Verluste auszugleichen, die ihr das Leben zugefügt hatte.
    Sie fand ihn faszinierend. Ein eigenartiger Mensch, noch eigenartiger als die anderen Kollegen, die Alberto ihr, vergeblich, vorgestellt hatte. Ihr Fachgebiet, die Mathematik, schien nur wunderliche Typen anzulocken oder mit den Jahren solche aus ihnen zu machen. Sie hätte, um etwas Amüsantes zu sagen, Mattia fragen können, was von beidem wohl zutraf, aber dazu fühlte sie sich nicht imstande. Jedenfalls traf »eigenartig« auf ihn zu. Und »beunruhigend«. In seinem Blick lag etwas Besonderes, ein glitzerndes Korpuskel, das in diesem dunklen Meer umherschwamm, und das, wie Nadia ahnte, bislang noch keine Frau hatte fassen können.
    Sie hatte ihr Haar auf einer Seite zusammengerafft, um ihm ihren entblößten Nacken zu zeigen, und fuhr mit den Fingern an einer Naht der Handtasche, die in ihrem Schoß lag, auf und ab. Aber weiterzugehen wagte sie nicht, obwohl sie größte Lust hatte, ihn zu provozieren. Und sie drehte sich auch nicht zu ihm um: Wenn er anderswohin blickte, wollte sie das gar nicht wissen.

    Mattia hustete leise in seine zur Faust geschlossene Hand, um sie zu wärmen. Er spürte Nadias Drängen, konnte sich aber nicht entschließen. Und auch wenn er sich entschlossen hätte, darauf einzugehen, so dachte er, hätte er nicht gewusst, wie er es anstellen sollte. Denis hatte einmal zu ihm gesagt, dass Annäherungsversuche immer nach einem festen Muster abliefen, so wie die Eröffnungen beim Schach. Dazu müsse man sich nichts Neues einfallen lassen, das sei unnötig, denn alle beide verfolgten ja dasselbe Ziel. So nehme die Partie ihren Lauf, und erst danach komme die Strategie ins Spiel.
    Aber ich kenne ja noch nicht mal die Eröffnungen, dachte er.
    Was er aber tat, war, seine linke Hand, wie das Ende einer ins Meer geworfenen Leine, in die Mitte der Rückbank zu legen. Dort ließ er sie ruhen, obwohl ihm das synthetische Material einen Schauer über den Rücken jagte.
    Nadia verstand, und unmerklich, ohne abrupte Bewegungen, glitt sie in die Mitte. Sie ergriff sein Handgelenk, hob seinen Arm und legte ihn sich über die Schulter. Dann lehnte sie ihren Kopf gegen seine Brust und schloss die Augen.
    Der Geruch ihres Parfums, der sich in ihren Haaren festgesetzt hatte, war stark und zog ihm aufdringlich in die Nase.
    Vor Nadias Haus fuhr das Taxi links ran und blieb mit laufendem Motor stehen.
    » Seventeen thirty «, sagte der Fahrer.
    Sie richtete sich auf, und alle beide dachten daran, wie mühevoll es sein würde, sich wieder so zusammenzufinden, wieder ein anderes Gleichgewicht aufheben und ein solches neu herstellen zu müssen. Und sie fragten sich, ob sie dazu noch einmal in der Lage sein würden.
    Mattia kramte in seiner Manteltasche und holte sein Portemonnaie
hervor. No change, thanks , sagte er, indem er dem Fahrer einen Zwanzigerschein reichte. Sie öffnete die Wagentür.
    Du folgst ihr einfach, dachte Mattia, rührte sich aber nicht.
    Nadia stand bereits auf dem Gehweg, während der Taxifahrer, in Erwartung neuer Anweisungen, Mattia über den Rückspiegel anblickte. Die Felder des Taxameters waren alle erhellt und zeigten blinkend 00.00 .
    »Komm«, sagte Nadia, und er gehorchte.
    Das Taxi fuhr wieder los, und sie stiegen bis ins oberste Geschoss eine steile Treppe hinauf, deren Stufen mit einem blauen Teppichboden verkleidet und so schmal waren, dass Mattia die Füße nur quer aufsetzen konnte.
    Nadias Wohnung wirkte ordentlich und stimmig bis ins kleinste Detail eingerichtet, wie es typisch sein mochte für das Zuhause einer allein lebenden Frau. Auf einem runden Tisch stand ein Weidenkörbchen mit getrockneten Blütenblättern, die schon lange keinen Duft mehr verströmten. Die Wände waren in kräftigen Farben gestrichen, Orange, Blau und Eiergelb, Farben, die in diesen Breiten so ungewöhnlich waren, dass es fast schon respektlos wirkte.
    Darf ich eintreten, fragte Mattia, während Nadia schon den Mantel auszog und über einen Stuhl warf, unbefangen wie jemand, der sich in den eigenen vier Wänden bewegte.
    »Ich hol uns was zu trinken«, sagte sie.
    Die verunstalteten Hände in den Hosentaschen verborgen, blieb Mattia in der Mitte des Wohnzimmers stehen. Kurz darauf

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