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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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Zeilen aus Anneliese Ottos Gedicht hatte sie plötzlich wieder Wort für Wort im Kopf wie einen perfekt auswendig gelernten Vers.
    Achim schenkte Rebekka nach.
    Ulrike lehnte sich versonnen zurück.
    Â»Mein Vater war der perfekte Mann. Diese Fantasie von Millionen von Frauen muss mit meinem Vater geboren worden sein – und ist nun auch mit ihm gestorben. Leider.«
    In ihrem Gesichtsausdruck waren sich die Otto-Kinder einig. Sie schauten alle gleich herausfordernd zu Rebekka.
    Â»Er war Vater von vier Kindern, Witwer einer aufmüpfigen Poetin. Dem rannten die Pfarrer und die intellektuellen Freunde meiner Mutter die Tür ein. Immer gab es gesellige Runden bei uns daheim. Er hat zwar nach Mutters Tod nie wieder eine andere an sich ran gelassen, aber geliebt hat er die Frauen doch. In Wahrheit aber nur sich selbst im Spiegelbild ihrer Augen.«
    Ulrike zündete sich eine Zigarette an. Diesmal gab keiner einen Kommentar dazu ab.
    Â»Keiner hat was gesagt, alle haben sie es gewusst. Alle saßen sie bei uns auf dem Sofa, bei hellem Bier und Erdnussflips und Doppelkorn haben sie fürs Land gekämpft. Aber nicht für eine wie mich. Ich war ja die Tochter von den beiden Großen. Kindesmissbrauch in der DDR. Am Wertvollsten wurde sich vergriffen. Heute reden sie davon. Von den schlimmen Dingen da in den Kinderheimen und Jugendwerkhöfen. Da musste ich nicht erst hin. Ich hatte es zu Hause.«
    Rebekka musste ihr Glas auf den Boden stellen, so sehr zitterten ihre Hände.
    Â»Wenn ich so zitterte wie du jetzt, hat es ihn besonders angetörnt. Ich musste mich auf ihn setzen, mich auf ihm rhythmisch hin und her bewegen, bis er kam. Manchmal war ihm das aber auch zu wenig. Ich hatte gehofft, diese Bilder wieder loszuwerden und nach seinem Tod nun endlich zur Ruhe zu kommen, die Bilder vom Schlafzimmer, dem großen Bett meiner Eltern. Damals erklärte mir mein Vater, dass er nichts tun würde, was ich nicht wolle.«
    Rebekka schaute in die Runde. In die Gesichter von Ulrikes Brüdern. Einer nach dem anderen senkte den Blick zu Boden.
    Sie haben es alle gewusst. Sie waren alle dabei.
    Â»Meine Mutter war glücklich über die Aussicht, an der Seite eines so großartigen Mannes zu leben, und dabei für ihre eigenen Gedichte inspiriert zu werden. Sie wollte so gern eine richtig große Lyrikerin werden. Und mein Vater war gut im Manipulieren – erst meine Mutter und dann uns Kinder –, wir alle waren sein Werkzeug. Mir hat er später erzählt, dass meine Mutter darunter gelitten habe, so wenig Anerkennung als Schriftstellerin zu bekommen. Außerdem hätte sie es nicht gemocht, dass er sich nur noch der ›Müllforschung‹, wie sie es nannte, widmete. Immerhin hatte sie meinen Vater übers Schreiben kennengelernt. ›Schreibende Arbeiter‹ gab es damals, und sie schloss sich ausgerechnet dem Zirkel des Müllbetriebs an, weil der dafür bekannt war, hin und wieder die wirklich interessanten Autoren des Landes einzuladen. Mein Vater selbst hat nie eine Zeile geschrieben, war aber Blender genug, sich über diverse Artikel in der Betriebszeitung zum Autor hoch zu stilisieren, und am Ende waren alle froh, einen Trottel gefunden zu haben, nur nutzte der Trottel seine Chance und griff sich bei der erstbesten Gelegenheit eine Jungautorin ab – meine Mutter. Und nach jedem Kind kam ein Gedichtband raus.«
    Jetzt sprach Ulrike emotionslos, als hätte sie die Rede mehrfach geprobt.
    Hat sie auch.
    Â»Ich war immer seine Prinzessin. Mein Vater hat alles getan, um mich einzigartig wirken zu lassen. Bereits als ganz kleines Mädchen hatte ich das Gefühl, meine Mutter sei eifersüchtig auf mich. Sie ließ uns so oft mit ihm allein. War auf Lesereisen unterwegs und fuhr zur Leipziger Buchmesse . Seine Zuneigung hat mir so lange geschmeichelt, bis sie mir wehtat. Doch da war es zu spät, da hatte er längst alle Macht über mich. Wenn ich gesagt habe, das gefiele mir nicht, meinte er immer nur, ich solle mich nicht so wichtig nehmen. Und dass man nicht einfach jemanden – schon gar nicht den eigenen Vater – irgendwelcher Sauereien beschuldige. Was ich mir denn einbilde. Wenn er das meinem Lehrer erzähle, der ständig zum Elternbesuch kam, würde ich ja sehen, was ich davon hätte. Dann könnte ich gleich die Schule wechseln …«
    Ulrike ließ den Satz ins Leere laufen und schaute

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