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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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hatte er aufgelegt. Ihm war die ganze Sache offensichtlich zu Kopf gestiegen, und Rebekka freute sich bereits, ihm den wieder gerade zu rücken.

Kapitel 10
    Rebekka fuhr bis Marzahn. Der vertraute Duft von Essen strömte hier nicht mehr aus den Küchenfenstern, sondern aus einer Dönerbude, die in der betonierten Landschaft wie eine Oase leuchtete.
    Im Nachbareingang zu ihrem Haus hatte Rebekka einst mit der zahnlosen Kathrin ihre erste Zigarette geraucht. Kathrin hatte Zähne gehabt, nur waren die so dunkel, dass man das Mädchen von Weitem für zahnlos hielt. Rebekka war die Einzige, die mit ihr spielte, und noch heute ertappte sie sich dabei, insgeheim nach der zahnlosen Kathrin Ausschau zu halten. Doch ihre Freundin war damals mit der ganzen Familie in den Westen ausgereist. Und das neidische Geläster im Hause war groß gewesen: Der Westen bekäme ja nun gleich das beste Bild von den Ossis geliefert, wenn die Grenze solche Leute ausspuckte. Dabei war Kathrins Vater Diplomingenieur für Textiltechnik gewesen und ihre Mutter Lehrerin für Sport und Biologie. Nach Kathrins Weggang war Rebekka auf sich allein gestellt. Mit ihren Klassenkameraden konnte Rebekka nicht viel anfangen. Sie galt als seltsames Kind mit ihren feuerroten Haaren. Die tief liegenden, etwas eulenartigen Augen erweckten den Eindruck, Rebekka könne ihren Kopf um 360 Grad drehen und ringsum alles wahrnehmen. Es stimmte: Rebekka entging nichts. Auch nicht die gelästerten Feuermelder-Witze hinter ihrem Rücken oder die Anspielung auf ihre Mutter, die hin und wieder betrunken auf dem Elternabend auftauchte.
    Die Balkons des Plattenbaus waren nun verglast, und die Fassaden an manchen Stellen bunt gestrichen. Die Straßen dienten nur noch zum Parken der Autos und als Stehbankett von ein paar Glatzen. Rebekka hätte das gern als Klischee abgetan, doch sie schaute direkt hinein in die Kindergesichter der Handvoll Jungs und Mädchen und musste annehmen, dass sie wirklich so aussehen wollten, wie sie aussahen. Menschen, die sie mit früher verband, begegnete Rebekka hier kaum. Dafür war hinter fast jedem Fenster das Flimmern eines Fernsehers zu sehen. Das Viertel ihrer Kindheit schien die Kinder verloren zu haben, zumindest die, die draußen an den Klopfstangen und im Sandkasten spielten.
    Trotz Gegensprechanlage war es leicht, ins Haus zu kommen.
    Â»Postwurfsendung!«
    Â»Bitteschön!«
    Â»Dankeschön.«
    Auf halber Treppe Sorten von Topfpflanzen auf dem Boden und in den Fenstern, die den herbei gesehnten Garten vermuten ließen. Hier manifestierte sich eine Sehnsucht, die in den typischen Büropflanzen wie Bogenhanf und Aloe vera ihre langweilige Erfüllung fand.
    Im vierten Stock hatten sie gewohnt mit Blick auf die Otto-Winzer-Straße, die zur Mehrower Allee geadelt wurde, als sich der DDR-Minister für Auswärtige Angelegenheiten nicht mehr so gut im Straßennamen machte.
    OffenstehendeWohnungstüren, weil man sich kannte, mal miteinander redete und sich vertraute. Freitags der Geruch von Badetabletten Typ Latschenkiefer auf allen Fluren, als hätten sich die Badelustigen abgesprochen oder als teilten sie sich eine Packung davon. Sonntagnachmittags oft wohltuende Stille. Man schlief nach dem Essen auf dem Sofa oder ging herausgeputzt ein Stück im Neubaugebiet spazieren. Rebekka und ihre Mutter fuhren sonntags zum Schaufenstergucken an den Alexanderplatz.
    Zu Weihnachten und Silvester wurde gefragt, wo es denn hinginge. Wellensittiche und Meerschweinchen wurden wechselseitig gefüttert. Kindergarten und Schule waren in Laufentfernung. Stundenpläne standen wie in Stein gemeißelt und ordneten hier so manchen Alltag, der sonst aus den Fugen geraten wäre.
    In ihrer Erinnerung auf ihrem lautlosen Gang die Treppen hinauf sah Rebekka den betrunkenen Mann im Feinripp in der Tür stehen. Dahinter seine Frau im gesteppten Morgenmantel, die sich das blau geschlagene Auge hielt. Auf dem Weg nach oben überkam sie das Gefühl, alle Klischees seien hier geboren in der kleinen Marzahner Enklave ihrer Kindheit, die doch eine glückliche war. Nur in einer Erinnerung hielt sich Rebekka ungern auf: Wenn die Wohnungsklingel abends ertönte und sie ihre Mutter im dünnen Nachthemd und leicht angetrunken auf dem Sofa wusste. Dann tauchte Stefan Rehbauer auf, ein Typ, der sich durch die Wohnzimmer des Viertels vögelte und seiner Frau im entfernten Berlin-Mahlsdorf

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