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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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nachgedacht …«, er rückte etwas näher an sie heran und flüsterte, obwohl niemand in Hörweite war, »von hier wegzugehen? Ich meine, diese Gegend ist doch tot!«
    Herr Ziervogel klang eher so, als hätte er bereits tausend Mal darüber nachgedacht und suchte nun eine Verbündete zum gemeinsamen Auswandern. Soviel an Anarchie hatte Rebekka ihrem kleinen, gedrungenen und sehr viel älter als 30 aussehenden Bankberater gar nicht zugetraut.
    Â»Das tue ich jeden Tag.«
    Es stimmte. Rebekka fühlte den Zeitpunkt nahen, da sie ihre Sachen packen und wieder ins Vico House ziehen würde. Aber das war das Letzte, das Herrn Ziervogel etwas anging.
    Â»Aber mal ehrlich, wegrennen kann doch jeder, oder?«
    Herr Ziervogel ließ ihre Frage unbeantwortet und lächelte nur mit diesem verständnisvollen Blick, den er sonst nur beratungsresistenten Härtefällen gönnte.
    Â»Nun gut, Sie können sich die Immobiliensache ja noch mal überlegen. Einstweilen bitte ich Sie aber, hier draußen vorsichtig zu sein.«
    â€ºHier draußen‹ klang aus Ziervogels Mund nach einem schädelübersäten Wüstenabschnitt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze.
    Â»Dank Ihrer Arbeit muss ich mein Geld ja nicht unter der Matratze aufbewahren. Was meinen Sie also?«
    Â»Ich meine Einbrüche und so. Die häufen sich zurzeit und geschehen am hellen Tag.«
    Â»Das ist mir lieber als in der Nacht, muss ich gestehen. Außerdem habe ich kaum Wertsachen in meiner Laube.«
    Â»Die nehmen alles.«
    Â»Wer sind die ?«
    Â»Polacken. Letzte Woche einen Mercedes-Sprinter mit elf Leichen hinten drin.«
    Rebekka hatte davon gehört. Der Fahrer des Transporters hatte nur kurz Pinkelpause gemacht, als ihm der Wagen gestohlen wurde samt der außergewöhnlichen Fracht, die er für einen Bestatter zur Einäscherung nach Meißen bringen sollte. Und nun war der Wagen samt Leichen in einem Wald in Polen gefunden worden.
    Â»Polacken, ja?«
    Herr Ziervogel rückte auf seinem Stuhl hin und her. Dieser Situation begegnete Rebekka häufig, wenn sie eine hingerotzte Bezeichnung, die längst im deutschen Sprachgebrauch angekommen war, wie mit einer Pinzette aus dem grünen Spuckefaden herauslöste und sie ihrem Gegenüber einem seltenen Insekt gleich unter die Nase hielt.
    Â»Das waren also Polacken. Sind Sie sicher?«
    Herrn Ziervogel war die Richtung, die das Gespräch zu nehmen drohte, sichtlich unangenehm.
    Rebekka sah die Zigarettenschachtel mit dem polnischen Sicherheitshinweis darauf, die neben Ziervogels Computer lag.
    Â»Waren das vielleicht die Polacken , zu denen Sie 200 Kilometer hin und zurück fahren, um billig Sprit und Zigaretten zu kaufen? Meinen Sie die Polacken , die uns hier die Lehrstellen wegnehmen, für die sich Brandenburger Gören zu schade sind? Meinen Sie diese Polacken ?«
    Â»Das war doch nicht so gemeint, ich …«
    Â»Ich sage Ihnen jetzt, was ich meine: Sollte ich Ihnen jemals eine Ihrer Schrottimmobilien abkaufen, dann nur, um direkt vor Ihrer Nase ein polnisches Kulturzentrum zu eröffnen!«
    Sie stand auf und ging zur Tür.
    Â»Machen Sie’s gut und – nein, gehen Sie nicht weg von hier. Sie passen hierher wie ein Arsch auf den Eimer.«
    Normalerweise vermied Rebekka Situationen wie diese. Bei Herrn Ziervogel waren ihr zum ersten Mal die Sicherungen durchgebrannt.
    Draußen vor der Tür atmete sie tief durch. Sie hatte den Fehler begangen, eine Erinnerung bei ihm zu hinterlassen, die über den geschäftlichen Umgang miteinander hinausging, eine Spur, auf der er schon aus Genugtuung herumschnüffeln würde. Er würde sie nun auf dem Kieker haben. Ihre Abhebungen verrieten ihre Aufenthaltsorte. Sie hatte Farbe bekannt, statt sich zu tarnen. Dabei war Camouflage ihre leichteste Übung.
    Bei der Höhe ihres Guthabens konnte Rebekka von den Zinsen nicht nur leben, sondern das Leben des Chamäleons führen, das sie seit ihrer Kindheit hatte sein wollen. Im Gegensatz zu Rebekka diente dem Chamäleon der Farbwechsel nicht in erster Linie als Tarnung, sondern vor allem zur Kommunikation mit Artgenossen. Und genau daran hatte Rebekka kein Interesse. Sie war gern allein und unabhängig und hatte dabei gelernt, die Farbe zu wechseln, um sich anzupassen. Diese Gabe empfand sie als ein sehr viel größeres Geschenk als die drei Millionen Euro auf ihrem

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