Die Einsamkeit des Chamäleons
Konto, die noch dazu von abscheulicher Herkunft waren.
Rebekka war im besten Alter einer Frau. Beim Chamäleon wurde die Bereitschaft zur Balz oft von auffälligeren Farben und Mustern begleitet. Rebekka hatte Freude daran, jeden Tag mit einer anderen Farbe zu beginnen. Die blaue Phase ergänzte sich wunderbar mit dem Feuerrot ihrer Haare. In einer auffällig pinkfarbenen Phase trug Rebekka ein schwarzes Tuch oder eine Strickmütze, unter der sie ihre Locken verbarg. In jedem Fall aber wusste sie, sich in Szene zu setzen und in Erinnerung zu bleiben. Die Färbung eines Chamäleons hing zudem von der Sonneneinstrahlung ab. Rebekka vertrug keine direkte Sonne, schon bei den ersten Strahlen, die sich aus dem Winterhimmel schälten, musste sie ihr Gesicht schützen, trug eine groÃe Sonnenbrille und immer eine Tagescreme mit Carotin. Es gab so viele Länder, die sie noch bereisen wollte, doch die lagen eindeutig zu weit südlich des Ãquators und waren deshalb unerreichbar für sie. In der Nacht nahm das Chamäleon sehr helle Farben an. So auch Rebekka: Sie hatte Angst vor der Dunkelheit, eine Angst, die ihr mindestens so schwer erträglich wie ihre Platzangst war. Trotz ihres Vermögens und ihrer Freiheit konnte Rebekka kein sorgloses Leben führen. Sie war auf der Hut, wo immer sie sich aufhielt. Sie übernachtete nur, wo eine Lampe am Bett stand und es auÃer dem Fahrstuhl auch noch ein Treppenhaus gab.
Rebekka band sich ihr Sakko um den Bund ihrer Anzughose und joggte nach Hause. Sie musste den Kopf wieder frei bekommen. Ausgerechnet in ihrem Banker durch ihr Auftreten den Keim von Misstrauen gesät zu haben, war dumm gewesen und alles andere als hilfreich.
Kapitel 12
Er klang gehetzt.
»Schreib mit!«
»Was?«
»SCHREIB MIT!«
Rebekka wagte keinen Widerspruch. Sie stand im Supermarkt vor dem Kühlregal und fror erbärmlich, während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Notizbuch suchte.
»Ich höre.«
»Carlo Hingst, 25. Frank Weber, 34. Jörg Fenske, 20. Alfred Schöller, 50. Wolfgang Rohm, 44. Uwe Kellermann, 52. Hast duâs?«
Rebekka schmierte die Namen nur so hin.
»Ja.«
»Manuela Opitz, 25. Heike Schön, 45. Gisela Zander, 46. Sylvia Meier, 22. Lutz Rotter, 55. Hast duâs?«
»Mark ⦠Woher hâ¦Â«
»WILLST DU SIE WISSEN ODER NICHT? DIE NAMEN?«
In diesem Ton hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Rebekka fühlte sich überrumpelt und fasziniert zugleich. Wenn das die Namen der Todesopfer vor Karl-Heinz Otto waren, dann gab es sie tatsächlich, dann war das alles keine Einbildung oder statistische Macke gewesen.
»Mach weiter.«
»Gut. Rudi Dwertmann, 62. Günter Reimann, 53. Georg Faust, 51. Thomas GroÃschmidt, 57. Carsten Reschke, 32. Bruno Lehmann, 49. Hans Schubert, 45. Und â¦Â«
»Und?«, fragte Rebekka zaghaft.
»Karl-Heinz Otto, 59.«
Rebekka hatte sich wieder gefangen. Sie ging langsam zur Kasse, das Telefon fest am Ohr. »Woher hast du die Namen?«
»Mein Rotlöckchen«, er klang wieder wie immer, vertraut, warm, gut und durchtrieben, »das willst du nicht wirklich wissen.«
Um herauszufinden, wie diese Menschen gestorben sind, muss ich wissen, wie sie gelebt haben.
Kapitel 13
Gegen zehn Uhr brachte ein Kurier ein Päckchen mit vier Lyrikbänden. Rebekka zog sich gerade an. Ihr blieben nur noch zwei Stunden bis zur Beerdigung von Karl-Heinz Otto. Sie nahm den Zettel zur Hand, auf dem sie mühsam die Namen der Toten aus der Recyclingfirma notiert hatte, und trug sie in eine Excel-Tabelle ein, dazu alle Informationen zur Familie Otto, die sie bereits gesammelt hatte.
Diese Begegnung würde schwierig werden. Rebekka war gewappnet. Sie schaute in den Spiegel, Spieglein Spieglein an der Wand , doch es ging ihr nicht um Schönheit, sondern darum, dass sie wieder genau diesen einen Wurf hatte, der sitzen musste.
You never get a second chance to leave a first impression .
Sie schloss die Augen, horchte tief in sich hinein. Trotz der bevorstehenden Beerdigung war der heutige Tag weià und beige.
Rebekka nahm einen hellen Bikini aus dem Schrank. Sie hatte sich angewöhnt, statt Unterwäsche Bikinis zu tragen, von denen sie eine ganze Kollektion besaÃ. Es war praktisch, somit in jedem Hotel der Welt für den entspannenden Moment eines Bades im Whirlpool, ein paar Bahnen im hauseigenen Schwimmbad oder
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