Die Einsamkeit des Chamäleons
Temperaturen winterlich eingepackt und unter der Hitze stöhnend, quetschte sich auf die ersten beiden Sitze unmittelbar hinter dem Fahrer. Der Mann stellte seine dicke Aktentasche wie einen Waffenkoffer neben sich auf den Boden, und jeder zweite der Nachfolgenden stolperte darüber, vom bösartigen Zischen des Alten begleitet.
Eine Resterampe skurriler Charaktere fuhr hier drauÃen tagsüber Bus, in einer Gegend, wo jeder froh war, wenn er sich ein Auto leisten und es auch fahren konnte. Drei Kinder, die Rebekka interessiert anstarrten, gehörten offensichtlich zu drei desinteressierten jungen Frauen, die wortlos Nachrichten in ihre Handys tippten. Jede der drei hatte sich zurechtgemacht, als gehe es zu einer Party und nicht zum Kinderarzt. In ihrem verzweifelten Wunsch, nach etwas auszusehen, sahen alle drei gleich aus. Das gleiche Rosarot in den Haaren, die gleichen eng geschnürten breiten Gürtel und viel zu engen Jeans, die die Fülle ihrer festgewachsenen und durch Schwangerschaft und Geburt vermehrten Teenagerpfunde kaum zähmten. Alle drei gehüllt in eine Duftwolke süÃen Parfüms gemischt mit dem Schweià aus abgetragenen Klamotten.
Rebekka war uneins mit dieser Gegend, aus der sie stammte, in der nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihr GroÃvater geboren waren. Zuviel an Gedankenlosigkeit und Bosheit war ihr hier bereits begegnet: Busfahrer, die auf die Minute losfuhren, obwohl sie zahllose Fahrgäste aus der verspätet eintreffenden S-Bahn auf den Bus zu rennen sahen; die Schulkinder zurück in den Regen schickten, wenn die Monatskarte einen Tag abgelaufen und die neue zu Hause vergessen worden war; Leute wie Faul, der sich nicht um das Privatleben anderer scherte und auch bei Rebekkas Nachbarn in die Fenster stierte; der Polizist, der abends seinen Hund ausführte und immer vor ihr Gartentor scheiÃen lieÃ; der Nachbar mit Frau und zwei Kindern, der pausenlos den Sohn anbrüllte, der nicht sein leiblicher war; der Steuerberater zwei StraÃen weiter, der aus Missgunst die Schreiben des Finanzamts an seine Klienten zurückhielt, bis diese rettungslos von einer Anhörung zur nächsten zitiert wurden â Rebekka bekam alles mit, obwohl sie nur selten hier war, denn die Menschen machten aus ihrer Heuchelei noch nicht mal einen Hehl.
Und so saà sie nun in einem edlen Kostüm im Bus auf dem Weg zu einer Beerdigung, auf der sie niemanden kannte. Passte sie sich sonst auch jedem Umfeld an, war es ihr heute egal, was die Leute dachten, deren abschätzigen Blicken sie begegnete und die Rebekkas Vorurteilen Nahrung gaben.
An der Station FriedrichstraÃe stieg sie aus der S-Bahn. Vor den Kneipen am Schiffbauerdamm saÃen Menschen mit roten Fleece-Decken in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres. Vom Wasser her wehte Dieselgeruch. Ein leeres Ausflugsboot glitt unter der Brücke hinweg. Zwei Möwen kreisten über dem Geschehen und machten Krach für zehn. In einem kleinen Schreibwarenladen kaufte Rebekka zwei Zehnerpackungen Karteikarten, von denen sie nur 19 brauchen würde.
Kapitel 14
Martin Luther auf einem Sockel mit Blick zum Ausgang. Die völlig zerschossene Familiengruft der Stargards im Rücken. Eine kleine Menschentraube stand auf dem grau gepflasterten Halbrund vor der Aussegnungshalle.
âºHerr Gott, Du bist unsere Zukunftâ¹, war über der Tür in das Mauerwerk gemeiÃelt und erinnerte Rebekka wieder einmal daran, dass sie noch nicht wusste, wer sie eines Tages unter die Erde brächte und â was ihr viel wichtiger war â wo sie ihre Zukunft nach der irdischen Realität verbringen würde. Und das war bestimmt nicht unter dem hell leuchtenden Stein neben oder auf ihrer Mutter in Neuenhagen. Am liebsten wäre ihr für den Tod ein Platz genau dort gewesen, wo sie ihr Leben spürte. Auf dem Père Lachaise in Paris bei Oscar Wilde, Edith Piaf und Simone Signoret. In einer Burg aus Muscheln von Point á Pitre oder im karibischen Ozean, der sie umspülte. Auf dem Wiener Zentralfriedhof bei Antonio Salieri und Falco. Auf dem Mount Carmel in Chicago bei den âºMobsternâ¹ der Cosa Nostra . Oder hier, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ihrer Stadt â Berlin, wo sie sich dann mit Brecht, Weigel und Thomas Brasch das gleiche Erdreich teilen würde.
Die Trauergäste unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Rebekka hielt drei weiÃe Rosen in der
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