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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
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Zeit mit ihnen zu verbringen.
    Rebekka ging zu den anderen. Für einen spürbar langen Moment herrschte völlige Stille. Selbst das Vogelgezwitscher wirkte leiser als zuvor. Es war eine Gedenkminute der besonderen Art. Erst jetzt schien jedem Anwesenden der Anlass dieser Veranstaltung bewusst zu werden.
    Diskret versuchte Rebekka, sich die Leute näher anzuschauen. Ein Ehepaar war dabei, das sich die ganze Zeremonie hindurch und auch jetzt am Grab ununterbrochen an den Händen hielt. Die Augen der Frau wanderten etwas zu oft hin und her, wie um sich der Wirkung ihrer Geste zu versichern. Ihr Mann wirkte tatsächlich betroffen, stand dem Verstorbenen also näher als seine Frau.
    Eine Handvoll Leute, Frauen und Männer aller Altersgruppen, stand beieinander wie auf einem Betriebsausflug. Rebekka hatte von Anfang an den Eindruck, dass sie eher aus Pflichterfüllung denn aus echter Zuneigung, die nun zu Trauer geworden war, gekommen waren.
    Welche Firma schickt ihre Angestellten zur Beerdigung eines Kollegen, wenn es nicht gerade der Firmenchef ist, der beerdigt wird? Und dann gleich so viele?
    Milchmeyer kam auf die kleine Truppe zu, durch die ein Ruck zu gehen schien. Er verabschiedete sich geradezu lautlos aber doch innig von seinen Kollegen, zum Schluss auch von Rebekka, als gehörte sie zur Firma. Nach Milchmeyer nutzten auch die anderen die Gelegenheit, zu gehen. Rebekka schaute ihnen nach. Merkwürdigerweise fühlte sie sich an einen Guru erinnert, dem seine Anhänger folgten, und es formte sich in ihr zu einem Bild, das ihr lange nicht aus dem Kopf ging.
    Die nunmehr auf um die zehn Leute geschrumpfte Gruppe blieb noch eine Minute lang stehen. Dann, wie auf ein unsichtbares Kommando, gingen alle wortlos den langen Weg zurück, an der Friedhofskapelle vorbei zum Ausgang und hinüber ins Brecht-Haus, das nur durch eine Mauer vom Friedhof getrennt war.
    Bertold Brecht hatte hier aus dem ersten Stock auf das idyllische Grün im Vorgarten der Charité blicken können. Katzen und Spatzen und Eichhörnchen machten sich breit in dieser Oase, in der außer aller paar Tage ein versprengter Trauerzug nichts und niemand die Ruhe störte.

Kapitel 15
    Rebekka ließ sich etwas zurückfallen, bis sie neben dem Pfarrer lief. Er ging bedächtig, hielt die Hände auch beim Gehen gefaltet und sah aus, als würde er seine Herde vor sich hertreiben und dabei auf einem guten Weg wissen. Mit Rebekka wandte er sich nun seinem letzten noch nicht eingefangenen Schäfchen zu.
    Â»Gehen Sie noch mit zum … Leichenschmaus?«
    Ein Perverser muss dieses Wort erfunden haben .
    Â»Natürlich. Sie auch?«, fragte Rebekka und signalisierte, dass sie das für eine gute Idee hielt.
    Â»Nur kurz zum Verabschieden.«
    Â»Schade.« Rebekka blieb kurz stehen. »Ich hätte mich gern noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten. Natürlich in der Hoffnung, dass Sie mir nicht die Gretchenfrage stellen.«
    Â»Warum nicht? Wie halten Sie es denn mit dem Glauben?« Unter seinem Borstenpony bildete sich eine steile Stirnfalte.
    Â»Und schon hat er die Frage gestellt, das gibt es doch nicht!«
    Rebekka lachte, er stimmte ein, und sie nahm den kritischen Blick von Nils wahr, der mit den anderen in die Chausseestraße einbog.
    Â»Ich glaube, was ich sehe. Aber ich spüre auch die Kraft echten Glaubens. Zum Beispiel heute. Die Stärke, die Sie den Hinterbliebenen mitgegeben haben, war spürbar.«
    Â»Es freut mich, dass meine kleine Ansprache, die ja keine Predigt sein sollte, das bewirkt hat. Aber glauben Sie mir, die Ottos sind eine starke Familie. Die Mutter war es, der Vater war es, und ihre vier Sprösslinge haben die richtigen Gene mit auf den Weg bekommen. Unserer Kirchengemeinde gehörte übrigens nur die Mutter an. Ich bin heute hier als Freund, nicht als Pfarrer.«
    Â»Anneliese Otto war eine gläubige Frau?«
    Rebekka bereute, ihre Gedichte noch nicht gelesen zu haben. Also musste sie bluffen.
    Â»Ihre Gedichte sprechen da aber eine ganz andere Sprache.«
    Â»Das lässt sich so einfach nicht beurteilen. Übrigens …«, er blieb kurz stehen und reichte ihr die Hand, »Reinhard Göbel mein Name. Sind Sie eine Verwandte?«
    Â»Rebekka Schomberg.« Ihr Händedruck war fest. »Nein, eine Freundin.«
    Â»Anneliese Otto können Sie nicht gekannt haben, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
    Rebekka lief es

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