Die Einsamkeit des Chamäleons
angestaut hatte. Nils war der Parasit einer jeden Situation. Er war einfach da, hängte sich überall rein, biss sich in einer beliebigen, gern völlig unwichtigen Sache fest und begann, jede schöne Atmosphäre um ihn herum leer zu saugen. Und genau deshalb platzte Rebekka der Kragen.
»Was hast du gegen mich? Musst du deinen Zynismus an mir ausleben? Zu geizig für einen Therapeuten?«
Nils schloss den Mund, schaute Rebekka aus groÃen Augen an und schien nicht zu wissen, ob er anerkennend lächeln oder weitermotzen sollte.
Da er schwieg, redete Rebekka einfach weiter. Sie kam gerade so richtig in Fahrt.
»Was ich erlebt habe? Wahrscheinlich den gleichen Mist wie du. Mist, den du nicht selbst verzapft hast, sondern deine Eltern oder â wie in meinem Fall â mein GroÃvater. Und deine Eltern hatten wahrscheinlich noch nicht mal Spaà beim Verzapfen. Sondern deine Mutter schrieb ihre Gedichte, ging in die Kirche, während dein Vater wohl für das sozialistische Vaterland bei der SERO forschte. Und wofür das alles? Damit es einem ewigen Meckerer wie dir eines Tages an nichts mangelt! Typen wie du kotzen mich an.«
Sie hielt inne. Alles schwieg und starrte. Rebekka spürte, dass sie zu weit gegangen war. Sie hatte Pulver verschossen, was hier nur verletzte und nicht verteidigte, wofür es doch gedacht gewesen war. Sie hatte sich provozieren lassen. Ausgerechnet von Nils.
Rebekka atmete tief durch.
Natürlich lieà sich Nils genau diesen Umstand nicht entgehen. Ein kleines, unsicheres Lächeln blitzte auf in seinem Gesicht, doch er fing es sofort wieder ein.
»Mein Vater war bei der SERO, das stimmt. Neu ist mir allerdings, dass es im Kindergarten an der Wandzeitung geschrieben stand.«
Rebekka hatte sich schnell wieder im Griff.
»Vielleicht erinnerst du dich ja an die blumige Rede des Firmenchefs auf der Beerdigung eures Vaters.«
»Du scheinst ja genau hingehört zu haben.«
»Richtig. Und das solltest du jetzt auch tun. Meine Mutter hat euren Vater oft getroffen. Auch später, nach dem Mauerfall, als sie ebenfalls in Tempelhof arbeitete, in einer kleinen Kanzlei nicht weit vom Sitz der Recyclingfirma. Sie sagte immer, sie fände es komisch, in welchem MaÃe Müll seit der Wende an Wert gewonnen habe.«
Rebekkas Mutter war alles andere als intellektuell gewesen und zu solch philosophischen Gedanken ganz und gar nicht in der Lage. Aber es tat Rebekka gut, ihr postum noch etwas Glanz zu verleihen und sie in ihre Ermittlungen einzuspannen. Sie nippte an ihrem Sektglas und sandte ein tonloses StoÃgebet zum Himmel.
Nils gab sich damit zufrieden. Er setzte sich, prostete seinem Bruder Achim zu, der zaghaft mit ihm anstieÃ, und sagte nur: »Die Spiele gehen weiter.«
Rebekka vernahm ein genervtes Stöhnen von Erik.
Ihre Unbeherrschtheit tat ihr leid. Sie saà hier zusammen mit Menschen, die ihr vertrauten, in deren Mitte sie sich einst geschlichen hatte wie ein Dieb bei Tageslicht, und auf deren ungetrübtes Entgegenkommen sie angewiesen war.
»Entschuldige bitte«, sagte Rebekka in Nilsâ Richtung. Er nickte nur und stopfte sich eine Bulette in den Mund. Achim kicherte.
Ulrike kniff Rebekka versöhnend in die Seite und zog sie zurück auf die Decke.
»Ich überleg mir noch, ob ich die Entschuldigung annehme«, hörte sie Nils noch sagen, doch sie wollte nicht weiter auf ihn eingehen.
»Nun lass sie doch!«, mischte sich jetzt Achim ein, der hellste der dunklen Pilzköpfe, zumindest, was die Haarfarbe betraf. Dabei lieà er Rebekka nicht aus den Augen.
Er selbst war noch immer gekleidet wie ein Nerd, was in liebenswertem Kontrast zu seiner latenten Flirterei mit jedem weiblichen Wesen stand, das nicht seine Schwester war. Sein dunkelblondes Haar überdeckte jetzt eine grüne Hornbrille vor den auffallend hellen Augen.
Rebekka befand sich auf dünnem Eis, das bereits verdächtig unter ihr krachte.
Sie mochte diesen sorglosen Haufen lässiger Leute und hatte sich zu lange nach keinem der vier Geschwister erkundigt. Von Ingrids Schwangerschaft hatte sie nichts gewusst. Noch nicht einmal Ulrike hatte sie angerufen, obwohl die junge Frau damals gerade einen Schlaganfall â oder zumindest den Verdacht darauf â überstanden hatte. Auch auf Ulrikes Verdacht, ihr Vater sei ermordet worden, war Rebekka nicht mehr eingegangen.
Sie hat es niemandem
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