Die Einsamkeit des Chamäleons
wenigstens so etwas wie eine Wahrheit.
Kapitel 38
Der morgendliche Himmel über Berlin hatte blaugraue Streifen, als die Sonne aufging und Rebekka die ersten wärmenden Strahlen spürte. Während sie sich auf dem Dach des Vico House in ihrem Liegestuhl rekelte, dachte Rebekka an den Abend im Park zurück. Es war fünf Uhr morgens. Um diese Uhrzeit war sie hier oben noch allein.
Rebekka war zehn Bahnen im Pool geschwommen. Sie wärmte ihre Hände an einem Kaffee im Pappbecher. In sieben Stunden war sie mal wieder mit Ulrike im Hackendahl verabredet. Gedanklich ging sie die kommenden Stunden durch. Eine Stunde lang würde sie sich noch die Berliner Zeitung und einen zweiten Kaffee gönnen. Danach ein heiÃes Bad mit Aroma-Ãlen in ihrem Zimmer. Dann wäre es sieben Uhr. Auf dem Laptop liefe dann die Nachrichtensendung des französischen Fernsehsenders TF1 und parallel dazu auf dem Bildschirm an der Wand der Nachrichtensender N24 ohne Ton mit dem Laufband der Schlagzeilen. Bis acht Uhr hätte sie die Informationen des Tages zusammen und von da an noch Zeit für einen Spaziergang und die Vorbereitung auf ihr Gespräch mit Ulrike.
In ihrem Refugium auf dem Land hatte sie Morgen wie diesen vermisst. Die Stadt hatte ihr gefehlt, dieses laute, stinkende, unfreundliche Puzzle aus Lebensträumen zahlloser Nationalitäten und Generationen. Die einen hatten gerade aufgegeben, die anderen legten gerade los. Und sie selbst fühlte sich immer wie ein Gast, der willkommen war und dessen Abwesenheit bemerkt worden war.
Ulrike war pünktlich. Sie trug einen gepunkteten Plisseerock und dazu ein eng anliegendes, ärmelloses T-Shirt, das ihre muskulösen, gebräunten Arme auf angenehme Art betonte. Ihre Pilzkopffrisur wirkte wie ein Fahrradhelm, den sie natürlich nie tragen würde.
Rebekka sah sie und winkte ihr zu, doch Ulrike warf keinen Blick ins Café. Sie wirkte innerlich aufgewühlt, als sie ihr Fahrrad am Laternenmast vor dem Eingang ankettete. Eine routinierte Bewegung, die ihr nicht wie sonst von der Hand ging.
Dann erst wurde ihr Blick suchend, und so etwas wie ein kurzes Strahlen der Erleichterung lag in Ulrikes Blick. Die beiden Frauen begrüÃten sich.
»Tomatensuppe zur Beruhigung?«, fragte Rebekka geradezu.
»Ja!«
Ulrike lächelte und schielte auf die Flasche Becks auf Rebekkas Platz.
»Zwei Tagessuppen und noch ein Bier bitte«, sagte Rebekka.
Die Kellnerin am anderen Ende des Tresens nickte und hob verstehend die Hand. Lautlos hantierte sie hinter der Bar und reihte sich nahtlos ein in die gemütliche Kneipenatmosphäre und die dunkle Holztäfelung mit ihrer beeindruckenden Aufreihung verschiedenfarbiger Likör- und Whiskyflaschen.
»Nils war gestern ziemlich geladen.«
Rebekka hatte nicht vor, lange um den heiÃen Brei herumzureden. Ulrikes Bruder war Rebekka ein Rätsel, und Rebekka mochte keine Rätsel. Sie mochte Klarheit und diese auch im Umgang mit anderen Menschen. Sie wollte keine Zeit vergeuden und erst herausfinden müssen, wer der andere war. Diese Zeit hatte niemand, und es gehörte sich in ihren Augen nicht, sich interessanter zu machen, als man eigentlich war, und andere mit dem groÃen Rätselraten aufzuhalten.
»Er war schlecht drauf«, sagte Ulrike entschuldigend. »Die Sache mit Jörn geht ihm nahe.«
Die Kellnerin stellte ein Bier vor Ulrike.
»Prost«, sagte Rebekka versöhnt. »Dann erzähl mir von Jörn.«
Ulrike schaute sie misstrauisch an.
»Und dann? Verschwindest du wieder vom Bildschirm mit unserer Familiengeschichte im Gepäck?«
Ihre Zweifel berührten Rebekka. Sie hatte recht damit.
»Du kannst ihn jeden Tag treffen.«
»Wen?«, fragte Rebekka verstört und ärgerte sich im selben Moment über ihre Gedankenlosigkeit. »Entschuldige! Wir sprachen von Jörn. Es tut mir leid, ich war gedanklich noch beim gestrigen Abend mit euch im Park.«
»Ja, das war eigenartig«, fuhr Ulrike versöhnt fort. »Ein schönes Wiedersehen und doch irgendwie seltsam. Zumal Jörn nicht dabei war. Er ist übrigens rausgeflogen bei Recycling, Verschrottung und Co. «
Rebekka war die Enttäuschung anzusehen. Nur mit Mühe gelang es ihr, gleichgültig zu wirken. Auf Jörn hatte sie für ihre weitere Recherche gebaut. Sie hätte sich sofort um ihn kümmern müssen. Nun war es zu spät.
»Was ist
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