Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Marians ›Zwischenfall‹ hat man sie nämlich im Block B eingesperrt, wo sie…« Er holt ein paar Mal japsend Luft, als müsste er heftige Gefühle unterdrücken, die sich in seinen glänzenden Augen zeigen. »Wo sie starben.«
»Starben?«, flüstere ich. »Wie?«
»Sato war damals Chef. Er war weniger geduldig als Onkel Paolo und suchte nach einem Weg, die fünf Generationen des Wartens auf einen Unsterblichen zu umgehen. Er wollte Unsterblichkeit auch für sich und so…« Onkel Antonio schließt die Augen. Seine Brust hebt sich, als er einatmet. Als er die Augen wieder öffnet, ist die Wut daraus verschwunden. Dafür sind sie jetzt voller Schmerz. »Er hat verschiedene Immortis-Varianten an ihnen getestet. Sie sind innerhalb weniger Tage gestorben und ihre Leichen…«
»Halt«, flüstere ich, weil er so bejammernswert aussieht. Und weil ich es nicht hören will.
Aber er ist gnadenlos. »Nachdem Sato mit ihnen fertig war, wurden die Leichen zum Vermodern in den Dschungel geworfen.«
»Aber Mutter –«
»Deine Mutter kennt die Wahrheit, Pia, aber sie hat sich schon vor langer Zeit auf ihre Seite geschlagen. Der Himmel weiß, warum. Vielleicht aus Angst, dass ihr dasselbe passieren könnte. Und dann ist da natürlich noch Paolo.« Er schüttelt den Kopf. »Er kam vor Jahren hier an und sie hat sich sofort in ihn verliebt. Sie war damals erst fünfzehn, doch sie sah ihn und war ihm verfallen. Mit Haut und Haaren. Und von diesem Augenblick an hasste sie deinen Vater. Paolo war alles, was Will nicht war, und dass sie füreinander bestimmt waren, war ihr ein Gräuel. Dabei wäre sie mit ihm besser dran gewesen. Er ist ein besserer Mensch als Paolo, nur zeigt er es niemandem.«
Das Wasser fühlt sich plötzlich zehn Grad kälter an, aber es liegt nicht an der Temperatur, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Nein. Bitte nicht. Er hatte recht. Das ist tatsächlich schlimmer, als ich es je für möglich gehalten hätte. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Räume im Trakt B, die Flecken an den Wänden und auf dem Boden… Blutflecken. Die Kratzspuren von den Fingernägeln meiner eigenen Großeltern, die möglicherweise durch Schmerzen oder Klaustrophobie in den Wahnsinn getrieben wurden. Wie lange mussten sie in diesen dunklen Zellen ausharren, bevor Satos Experimente sie töteten? Waren sie erleichtert, als sie schließlich sterben konnten?
Wie kann meine Mutter mit diesem Wissen leben? Mein Vater? Er ist so still und schüchtern… vielleicht ist das der Grund. Er schien sich immer vor irgendetwas zu verstecken. Ich wusste nur nie, wovor.
Doch diese schreckliche Wahrheit ist noch nicht das Schlimmste. Dass es die Wahrheit ist, bezweifele ich nicht, selbst wenn ich es gern würde. Denn eine Lüge könnte keinen so tiefen Schmerz in Onkel Antonios Gesicht graben. Die Antwort, nach der ich am dringendsten gesucht habe, hat er mir noch immer nicht gegeben, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt noch hören will.
»Weshalb sind Alex und Marian weggelaufen, Onkel Antonio?«
»Komm mit nach Ai’oa, Pia, dort erfährst du es. Ich schwöre dir, dass ich dich danach nie mehr um etwas bitten werde. Komm dieses eine Mal noch mit. Wenn du deine Meinung dann nicht änderst, weiß ich, dass du wirklich und wahrhaftig eine von ihnen bist. Ich werde dir sogar höchstpersönlich deinen Laborkittel reichen.«
Seine Worte sind hart und kalt, doch in seinen Augen steht ein fast verzweifeltes Flehen.
»Wenn du nicht meinetwegen gehen willst, geh um Eios willen. Ein letztes Mal. Du hast mir erzählt, dass er sein Leben riskiert hat, um deines zu retten. So viel bist du ihm schuldig.«
Damit erhebt er sich, schlüpft in seine Sandalen und stellt es mir frei, wieder unter Wasser zu tauchen. Aber das tue ich nicht. Ich schaue ihm nach und weiche seinem Blick nicht aus, als er auf halbem Weg zur Tür stehen bleibt und zurückschaut.
»Ich warte um Mitternacht beim Tunnel auf dich.« Die Traurigkeit in seinen Augen ist so tief, dass man darin ertrinken könnte. »Für Alex und Marian ist es zu spät, Pia. Zu spät für mich und deine Mutter und deine Großeltern. Für dich ist es noch nicht zu spät – aber die Zeit wird knapp.«
Er geht und seine nassen Sandalen quietschen auf den Fliesen. Ich lasse mich auf dem Rücken in die Mitte des Beckens treiben, denke an das Foto, das mir meine Mutter am Geburtstag gezeigt hat, und an die verschwommene Gestalt im Hintergrund, die mein Großvater war.
Die Vergangenheit
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