Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
und sie weinte viele Tränen um sie. Aus ihren Tränen wuchs Yresa und Tränen sammelten sich in den Blüten.«
Ich schaue Eio an. »Der Ursprung von Yresa«, flüstere ich. Noch deutlich erinnere ich mich an seine Worte, als er mir zum ersten Mal den Fluss zeigte. »Du kennst ihn nicht, oder? Den Ursprung von Yresa?« Es ist das erste Mal, dass ich wieder an diesen Moment denke.
Kapukiri räuspert sich und ich merke, er ist verärgert, weil ich ihn unterbrochen habe.
»Entschuldige«, flüstere ich.
Er blickt mich mit zusammengekniffenen Augen an und fährt fort: »Nach Miuas Anweisung tranken die Ältesten von den Tränen der Yresa und starben. Die weisen Männer des Dorfes machten einen Schnitt in die Handflächen der Toten und gaben einen Tropfen von ihrem Blut auf die Zungen der Lebenden. Daraus entstand die Miu’mani, die Todeszeremonie. Nachdem die Menschen das Blut der Ältesten getrunken hatten, weinten und klagten sie im Tal und aus ihren Tränen wuchs immer mehr Yresa. Von da an starb kein Ältester mehr im Schlaf. Er ging ins Tal der Yresa und trank ihre Tränen und sein Blut wurde den Menschen gegeben. Das Blut floss von Mutter zu Tochter, von Vater zu Sohn und jeder Generation wurde ein Beschützer geboren. Diese Beschützer waren mächtige Krieger, schnell und stark. Sie wurden Tapumiri genannt und sie konnten nicht sterben. Wenn die Maturo über den Berg kamen, verteidigte der Tapumiri die Kaluakoa und schickte die Maturo ohne ein einziges erobertes Gesicht zurück.«
Ich starre wie gebannt ins Feuer. Die Flammen nehmen Gestalt an, werden zu Menschen. Rotgoldene Kaluakoa, die aufstehen und fallen, gebären und sterben. Kurze, vergängliche Leben, gelebt in scheinbarer Bedeutungslosigkeit, doch jetzt unsterblich geworden durch Kapukiris Worte.
»Die Tapumiri waren so mächtig, dass ihre Körper nicht alterten. Aber im Herzen wurden sie alt, und wenn sie die Fülle ihrer Jahre ausgeschöpft hatten, tranken auch sie die Tränen Miuas und starben. Denn man sagt, dass der große Fluss des Lebens nicht ewig fließt, sondern mit Blut erneuert werden muss, genau so wie der große Fluss im Dschungel mit Regen erneuert werden muss. Deshalb bestimmten die Götter, dass viele sterben müssen, bis ein Beschützer geboren werden kann. Es gibt keine Geburt ohne Tod. Es gibt kein Leben ohne Blutvergießen.
Doch dann wurde dem Häuptling der Kaluakoa ein Tapumiri geboren und er wurde Häuptling, als sein Vater starb. Das war Izotazza der Törichte, denn er wollte der einzige Tapumiri auf der ganzen Welt sein und der mächtigste. Deshalb verbot er den Ältesten, von den Tränen der Yresa zu trinken, und brannte das Tal nieder, in dem sie wuchsen. Die Ältesten weinten wegen seiner Dummheit, doch Izotazza ließ sich nicht umstimmen. Und so wurden keine Beschützer mehr geboren.«
Das Feuer ist heruntergebrannt. Die Holzkohle glüht wie die Augen eines Jaguars. Ich kann meinen Blick nicht davon lösen.
»Als die Maturo von der Dummheit dieses Häuptlings hörten, kamen sie in nie gekannter Stärke über den Berg, mit Frauen und Kindern und alle trugen Messer und Giftpfeile bei sich. Izotazza war nicht mächtig genug, um sie alle allein zu bekämpfen, und so wurden sämtliche Kaluakoa getötet.
Izotazza sah, wozu seine Dummheit und sein Hochmut geführt hatten. Er ging in das Tal, in dem früher Yresa wuchs, und beweinte den Tod der Kaluakoa. Drei Monde und drei Sonnen lang weinte er, und als er keine Tränen mehr hatte, schaute er auf und sah, dass das Tal wieder voller Yresa war. Seine Tränen hatten sie hervorgebracht. Izotazza trank davon und starb.«
Kapukiri hält inne. Fast scheint es, als sei er in Trance gefallen. Er starrt in die Glut und in seinen Augen spiegelt sich die glimmende Kohle. Reglos wie eine Statue sitzt er da, nicht einmal sein Brustkorb hebt und senkt sich. Eine ganze Weile verharrt er so, bevor er fortfährt.
»Seit dieser Zeit fürchten die Menschen der Welt das Tal der Yresa . Die Ai’oaner trinken nicht davon, denn wir sind ein starkes Volk. Wir können uns gegen Stämme wie die Maturo verteidigen und brauchen Miuas Tränen nicht.«
Er blickt auf und schaut mich aus seinen dunklen Augen, die so jung sind und gleichzeitig uralt, direkt an. Ich habe das Gefühl, als sähe er jeden Augenblick meines Lebens, sähe alles, was ich je getan habe, und hörte jeden Gedanken, den ich je gedacht habe. Seine Augen halten meinen Blick fest, sie brennen.
»Doch wir vergessen die Kaluakoa
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