Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
doch er hat bereits einen Satz nach hinten gemacht und die Hände hochgerissen. Wenigstens versucht er es jetzt nicht noch einmal.
Doch er tut es. Er packt den Zaun erneut und kann fast einen Meter hoch klettern, bevor der nächste Stromstoß kommt und er loslassen muss und zurückfällt auf dem Boden. Da liegt er wie ein Häufchen Elend und einen Augenblick lang fürchte ich, er sei tot. Mein Kopf spult die Zahlen herunter: 5.000 Volt alle 1,2 Sekunden. Wenn die Hände nass sind, senkt dies das Widerstandslevel um mindestens 1.000 Ohm, was das Todesrisiko von 5 % auf 50 % anhebt. Berührt er den Zaun noch einmal, steigt das Todesrisiko auf 95 %… Ich schüttle den Kopf, zwinge die Zahlen in den Hintergrund, bis sie sich am entferntesten Rand meines Bewusstseins zusammendrängen. Selbst wenn er noch lebt, schrillen im Kontrollraum die Sirenen. Onkel Timothy ist bestimmt schon auf dem Weg. Wenn er Eio erwischt –
Mein Herz hört auf zu schlagen, meine Atmung setzt aus und mein Blut stockt. Nein, nicht Eio…
Ich halte das nicht aus. Ich kann nicht zuschauen, wie er sich auf diese Art und Weise umbringt. Und ich werde nicht zulassen, dass diese Männer ihn fangen und töten, um an sein Blut zu kommen. Aber was kann ich tun? Die Tür ist abgeschlossen.
Die Wände sind aus Glas, Pia.
Und was passiert mit Glas? Ich denke an die Spritze.
So schnell, wie kein gewöhnlicher Mensch es könnte, springe ich auf, packe die Lampe auf meinem Nachttisch und schmettere sie mit aller Kraft gegen die Scheibe. Sie prallt daran ab, ohne Schaden anzurichten.
Ich suche nach etwas Geeigneterem und mein Blick fällt auf das Rohr unter meinem Waschbecken. Ich versuche es zu lockern und reiße es schließlich vollends aus der Wand. Sofort schießt Wasser heraus. Ich kümmere mich nicht darum, umklammere das Rohr mit beiden Händen und hole mit aller Kraft aus.
Ich erwarte, dass sich Risse über die Scheibe ziehen.
Stattdessen zerspringt die ganze Wand. Glassplitter, so fein wie Regentropfen, prasseln in und vor meinem Zimmer auf den Boden – und es klingt sogar wie das Prasseln des Regens draußen.
Meine Tür fliegt auf und Wachmann Dickson stürmt herein. Einen Moment lang steht er da und schaut wie gebannt auf das Loch, das einmal eine Wand war. Dann macht er einen Satz auf mich zu. Bevor mein Gehirn einen Befehl an die Muskeln erteilen kann, holen meine Arme schon aus. Das Rohr trifft Dicksons Knie und er geht stöhnend zu Boden.
Ich will losrennen, doch er erwischt meinen Knöchel.
»Lass – los!« Ich versuche mich zu befreien, aber jetzt hält er mit beiden Händen mein Bein fest. Sein Gesicht ist rot vor Schmerz und Anstrengung, aber er will mich auf keinen Fall loslassen. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass Eio uns beobachtet, bleich und mit großen Augen.
»Ich tue das wirklich nicht gern«, sage ich zu Dickson und hebe das Rohr.
In diesem Moment kommt noch jemand durch die Tür. Clarence. Du gehörst auch zu denen? Er muss im Wohnzimmer gewesen sein. Unsere Blicke treffen sich, er schüttelt langsam den Kopf und streckt eine Hand aus.
»Komm, Pia, gib es her. Alles wird gut. Du wirst –«
Ich lasse das Rohr auf Dicksons linke Hand niedersausen. Er brüllt und lässt mein Bein los, dann packt er mit einer Hand das Rohr und entreißt es mir. Ich stolpere nach hinten. Dicksons Knie muss zertrümmert sein, denn er kann nicht aufstehen. Doch dafür kommt Clarence auf mich zu.
»Pia –«
Als seine Hände sich um meinen Arm schließen wollen, wirble ich herum. Bevor er auch nur blinzeln kann, bin ich hinter ihm. Dickson will wieder meinen Knöchel packen, doch ich tänzle aus seiner Reichweite. Ich bin zu schnell für sie, meine Reflexe sind zu gut. Sie gleichen Drei-Zehen-Faultieren und ich Amis Goldenem Löwenäffchen, klein und schnell und nicht zu fassen.
Ich wundere mich, wie langsam und verletzlich diese Menschen sind.
Clarence nimmt das Rohr und versucht mich am Bauch zu treffen, doch ich mache einfach einen Schritt zur Seite. Er hat den Schlag mit solcher Wucht geführt, dass der Schwung ihn stolpern lässt und zu Fall bringt. Er schlägt mit dem Kopf an mein Orchideenregal und bricht zusammen. Erde und Blumen regnen auf ihn herab.
Ich springe nach draußen und laufe zum Zaun.
»Eio! Alles okay?«
Er nickt. Seine Lider flackern. »Pia-Vogel.«
»Ich bin da, Eio. Ich – ich kann nicht zu dir kommen, aber ich bin da.« Die Maschen des Drahtes sind gerade groß genug, dass ich den Arm
Weitere Kostenlose Bücher