Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Erzähl es mir.« Sie sind fünfzig Meter hinter uns und holen auf. Ich laufe schneller, doch selbst mit dem Serum, das sie antreibt, können Amis kurze Beine nicht mithalten.
»Es ist ein Symbol«, erklärt sie. »Wenn ein ai’oanischer Junge es einem Mädchen von einem anderen Stamm gibt, heißt das, dass sie zu ihm und zu Ai’oa gehört, solange sie es trägt.«
»Lauf weiter, Ami!« Wir sind jetzt hinter dem Tierhaus. Ein Blick zurück sagt mir, dass Onkel Paolo die anderen anführt. Noch vierzig Meter.
»Ich musste es dir zurückbringen«, fährt Ami fort und schlingt ihre Arme um meine Taille. »Du bist doch eine von uns.«
»Hör zu, Ami! Du musst laufen! Lauf nach Hause und erzähl allen –« Dazu ist jetzt keine Zeit. Ich zeige nach oben. »Siehst du die Stelle, wo der Maschendraht aufhört? Direkt unter der Stange?«
Sie blinzelt in den Regen und nickt.
»Du musst hinaufklettern, Ami, so schnell du kannst. Sobald die Lichter wieder angehen, läuft auch Strom durch den Zaun. Du musst ganz, ganz schnell klettern!«
»Und was ist mit dir?«
»Ich bin direkt hinter dir! Los!«
Sie beginnt geschickt wie ihr Löwenäffchen zu klettern und ich folge ihr. Sie ist oben und beugt sich über die Stange, an der der Maschendraht befestigt ist.
Plötzlich packt eine Hand meinen Knöchel und ich werde ein Stück nach unten gezogen
»Pia!« Ami schreit und greift nach meiner Hand.
»Hör auf! Lass los!« Ich befreie mich mit einem Ruck aus ihrem Griff. »Lauf, Ami. Lauf!«
»Nicht ohne dich!«
Ich schaue nach unten. Sergei umklammert meine beiden Knöchel und Paolo hat den Saum meines Laborkittels gepackt. Ich blicke hinauf zu Ami und muss eine Entscheidung treffen. Ich löse beide Hände vom Zaun und verschaffe mir den kurzen Moment, den ich brauche, um sie durch die Lücke zu schubsen. Mit einem Schrei fällt sie auf der anderen Seite hinunter. Ich falle rückwärts in die Arme der Wissenschaftler.
Noch einmal brülle ich ihr zu, dass sie laufen soll, und nach einem entsetzten Blick zu mir rennt sie in den Schutz der Bäume. Erleichtert sacke ich zusammen und lasse mich wegschleifen.
32
Sie schließen mich in mein gläsernes Zimmer ein und ich renne sofort ins Bad, knie mich vor die Toilettenschüssel und würge. Da ich heute noch nichts gegessen habe, kommt nur Magensäure, von der meine Kehle brennt.
Als ich nichts mehr hochwürgen kann, kauere ich mich keuchend und hustend auf den Boden. Da sehe ich, dass der Toilettensitz rot verschmiert ist. Ich hebe die Hände.
Sie sind rot von Amis Blut.
Ich würge noch einmal, wanke dann zum Waschbecken und wasche mir immer wieder die Hände unter brühend heißem Wasser. Tränen fallen auf meine Hände und rollen rot gefärbt in die weiße Porzellanschüssel. Ich zittere am ganzen Körper und schrubbe immer schneller.
Als das Wasser kalt wird und meine Hände rot sind vom vielen Scheuern, schleppe ich mich in mein Zimmer und lasse mich benommen aufs Bett fallen. Meine Kehle brennt wie Feuer und meine Hände fühlen sich taub an. Ich lege sie auf die Brust und spüre mein Herz wie einen Vorschlaghammer gegen meine Rippen schlagen.
Onkel Paolo und Onkel Timothy stehen mehrere Minuten vor meiner Tür und diskutieren Sicherheitsvorkehrungen. Es ist die Rede von Fußfesseln, Kameras und davon, mich in den leeren Flügel im Laborblock B zu schaffen. Endlich höre ich, wie sie sich entfernen und die Haustür hinter ihnen zuschlägt. Aber sie haben jemanden abgestellt, um die Tür zu bewachen. Ich höre ihn atmen.
Ich wende mich dem Dschungel zu, hebe die Arme und betrachte meine Handgelenke. Mein Blick folgt den feinen blauen Linien unter der Haut. Mein Blut gehört mir nicht. Es gehört Ai’oa, den vielen, die starben, damit ich geboren werden konnte.
Ich fahre mit dem Fingernagel eine blaue Ader nach und drücke ihn dann in die Haut. Sie hält, wie immer. Meine Tränen brennen wie Säure, während ich immer fester an meinem Handgelenk kratze. Aber nichts passiert. Nicht mein Blut! Nicht mein Blut!, schreit es in meinem Kopf. Ich kann nicht aufhören mit dem entsetzlichen Mantra, kann nicht aufhören zu kratzen. Nichts geschieht. Sie haben meine Adern mit dem Blut anderer Menschen gefüllt und ich habe keine Möglichkeit es loszuwerden.
Endlich gebe ich auf und lasse meine Hände aufs Bett fallen. Meine Handgelenke sind rot und wund, aber der Schmerz lässt zu schnell nach und bald sind sie wieder glatt, weiß und perfekt.
Wie dumm von Onkel Paolo –
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