Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
nein, nicht »Onkel«. Nie mehr. Weder er noch die anderen – zu glauben, er könnte mich abrichten, damit ich werde wie er und der Rest des Teams. Zu glauben, er könnte mit den richtigen Tests und den richtigen Vorträgen eine kaltblütige, herzlose Mörderin aus mir machen. Zu glauben, ich könnte das Schlagen meines eigenen Herzens lange genug ignorieren, um ein anderes zum Aufhören zu zwingen.
Er war dumm, genau wie ich. Ich habe alles geglaubt. Angefangen von dem Sperling in dem elektrischen Käfig bis zu dem armen, schutzlosen Sneeze. Ich habe ihm geglaubt, als er sagte, es sei notwendig. Das war es nicht. Nichts von alledem war notwendig. Es war alles eine Vergeudung, eine schreckliche Vergeudung von Leben. Selbst nachdem ich die Geschichte der Kaluakoa gehört hatte und jede Faser meines Körpers spürte, dass es die Wahrheit war, wollte ich es immer noch nicht glauben. Nicht wirklich. Selbst da dachte ich noch, dass alles gut werden würde. Dass das Licht des neuen Tages die schlimmen Mutmaßungen der Nacht vertreiben würde. Dass sich alles irgendwie als großes Missverständnis herausstellen würde.
Ja, Paolo war dumm.
Aber viel dümmer noch war ich.
Ich denke an meinen heftigen Wutausbruch und empfinde keinen Funken Triumph, weil ich ihm endlich die Stirn bieten konnte. Ami ist frei, ja, und ich wünschte, ich könnte eine gewisse Erleichterung darüber empfinden, aber ich spüre nur Niederlage und Elend und Bedauern und vor allem eine schreckliche, alles überlagernde Schuld.
Was wird mit mir geschehen? Werden sie mich einsperren wie Onkel Antonio, nur dass es bei mir für immer und ewig sein wird? Wie lange können sie mich in diesem gläsernen Käfig festhalten? Ich beginne Berechnungen anzustellen, doch mein Verstand arbeitet immer langsamer und hört schließlich ganz auf, nach Zahlen zu greifen, die sich in Rauch auflösen. Zum ersten Mal in meinem Leben lässt mein Verstand mich im Stich. Das sollte mir Angst machen, aber dazu fühle ich mich zu leer.
Ich kann ohnehin nicht erwarten, dass ich noch dieselbe bin wie gestern. Die Pia von früher gibt es nicht mehr. Wenn ich überhaupt noch Pia bin, bin ich ganz, ganz anders. Unwiderruflich verändert. Mir wird bewusst, dass die Veränderung nicht plötzlich eingetreten ist. Seit Tagen schon habe ich mich verändert, seit ich zum ersten Mal nach Ai’oa hineingestolpert bin. Die Menschen des Dschungels haben mich verändert. Eio hat mich verändert. Ich bin schon eine ganze Weile nicht mehr die alte Pia, nur habe ich es bis jetzt nicht gemerkt. Bis jetzt brauchte ich es auch nicht zu merken. Ich bin zwischen zwei Welten hin und her gewechselt, die nie nebeneinander existieren konnten, und jetzt endlich wurde ich zu einer Entscheidung gezwungen. Onkel Antonio wusste, dass es so weit kommen würde, und hat mich gewarnt, doch anstatt mich für die richtige Seite zu entscheiden, habe ich die falsche gewählt. Ich ging nach Little Cam zurück. Hätte ich doch nur auf ihn gehört, dann könnten Eio und ich längst weg und in irgendeinem entfernten Land in Sicherheit sein, wo selbst Paolo uns nicht finden könnte.
Aber was würde dann aus den Ai’oanern? Das Töten würde weitergehen, auch ohne mich. Ich frage mich, ob Onkel Antonio das in seinem Plan bedacht hat. Was glaubte er, würde passieren? Dass mit meinem Verschwinden in Little Cam mit einem Schlag alles aufhören würde? Weit gefehlt. Wahrscheinlich hätten sie das Immortis-Projekt mit doppeltem Eifer neu gestartet.
Ich höre ein Klacken an der Scheibe und mein Herz schlägt schneller.
Wieder ein Klacken.
Ich laufe zum Fenster und lege die Hände ans Glas.
Da steht er, für alle sichtbar. Er macht nicht einmal den Versuch sich zu tarnen. Keinen Meter vom Zaun entfernt.
Sein Blick ist wild. Er ist hier wegen Ami, ich weiß es. Ich kann mir die Wut vorstellen, die in ihm pulsiert wie der Strom im Zaun. Hat er die Wahrheit inzwischen erkannt? Die Ai’oaner kennen die Legende der Kaluakoa. Sie wissen, dass meine Existenz den Tod vieler bedeuten muss. Sie wussten nur nicht, dass die Toten ihre eigenen Stammesmitglieder waren.
Oh, Eio, es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid. Für Ami und Sneeze und für dich und mich und für all die anderen, die wir nicht kennen und die starben, damit ich leben kann.
Seine Lippen bewegen sich. Er muss doch wissen, dass ich ihn nicht hören kann. Ich schüttle den Kopf.
Plötzlich packt er den Zaun.
»Nein!«, schreie ich,
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