Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
zu entkommen, nur noch sich auszuruhen.
Bestimmt nicht.
Der Vogel kann sich kaum drei Sekunden in der Luft halten, dann muss er wieder landen. Er kämpft, hat aber nicht mehr die Kraft aufzufliegen. Stattdessen hüpft er mit ruckhaften Bewegungen und glasigen Augen umher.
Der elektrische Strom zischt und knistert.
Oder doch?
Ich öffne den Mund und hole tief Luft –
Doch endlich spricht Onkel Paolo. »Genug. Du kannst ausschalten, Sylvia.«
Meine Mutter schaltet den Generator ab und der Vogel sackt erleichtert zusammen.
Ich auch.
Onkel Antonio kommt in mein Zimmer. Ich sitze mit untergeschlagenen Beinen auf meinem Bett und halte die Ammer in meinen Händen. Sie ist zu erschöpft und traumatisiert, um zu kämpfen. Ich streiche gedankenverloren über ihr Gefieder, während ich in den Dschungel hinausschaue. In meinem Zimmer sind drei Wände und sogar die Decke aus Glas. Da das kleine Haus direkt neben dem Zaun am westlichen Rand der Anlage steht, habe ich fast einen 360-Grad-Blick auf den Regenwald. Mein Zimmer war einmal ein Gewächshaus. Nach meiner Geburt beschlossen die Wissenschaftler, es in ein Zimmer für mich umzuwandeln. Der Rest des Hauses – botanische Labors – wurde zu einem zweiten Schlafzimmer mit Bad umgebaut, einem Wohnzimmer und einem Arbeitszimmer für meine Mutter.
Sie haben oft davon gesprochen, statt der gläsernen Wände Mauern hochzuziehen, aber ich habe mich jedes Mal dagegen gewehrt. Genauso habe ich dafür gekämpft, dass die Kameras entfernt wurden, die mich früher Tag und Nacht beobachtet haben. In beiden Fällen habe ich gewonnen, wenn auch nur knapp. Da das Gewächshaus nur wenige Meter vom Zaun entfernt ist und dazwischen kein anderes Gebäude steht, bin ich vor den Blicken der übrigen Little-Cam-Bewohner geschützt und habe einen Panoramablick auf den Dschungel. Es ist fast so, als gäbe es überhaupt keine Mauern. Ich liebe es, beim Aufwachen die Bäume über mir zu sehen. Manchmal sitze ich stundenlang auf meinem Bett, schaue hinaus und warte, dass irgendwelche Tiere an meinem Fenster vorbeikommen.
Und manchmal stelle ich mir sogar vor, wie es wohl auf der anderen Seite des Zauns wäre. Wie es wäre, einmal hereinzuschauen anstatt hinaus. So weit laufen zu können, wie ich möchte.
Aber das ist alles Quatsch. Meine Welt ist Little Cam, und wenn ich da draußen im Dschungel wäre, wüsste ich sowieso nicht, wohin ich laufen sollte.
Onkel Antonio geht hinüber zu der gläsernen Wand, stellt sich mit dem Rücken zum Dschungel und beobachtet mich, die Hände in den Taschen.
Von all meinen Tanten und Onkel in Little Cam ist mir Onkel Antonio der liebste. Im Gegensatz zu den anderen sagt er nie, ich sei perfekt. Er nennt mich »Chipmunk«, obwohl ich noch nie ein Streifenhörnchen gesehen habe, außer in Zoologiebüchern. Onkel Antonio übrigens auch nicht. Er wurde wie ich in Little Cam geboren.
»Ich habe bestanden«, antwortete ich auf seine unausgesprochene Frage. Sein Blick fällt auf den Vogel in meinen Händen.
»Und er?«
»Ich soll ihn in die Voliere zurückbringen.«
Onkel Antonio hat die Lippen fest zusammengepresst. In seinem dichten Bart sind sie kaum zu sehen. Er ist strikt gegen diese Tests, äußert seine Meinung aber nie laut. In Little Cam hat Onkel Paolo das Sagen und Onkel Antonio kann nichts dagegen tun.
»Ich gehe mit«, verkündet er. Ich nicke, froh über seine Begleitung.
Wir verlassen das Glashaus und gehen zu den Volieren. Zehn Reihen horizontaler Stäbe mit elektrisch geladenem Maschendraht dazwischen umgeben das Gewächshaus und den Rest des Forschungsgeländes, das wir Little Cam nennen und in dem wir unter dem Dach des Regenwaldes verborgen und sicher leben wie Ameisen in ihrem Bau. Von den dreizehn Gebäuden hier sind einige Labors, andere Wohnhäuser, in einem davon gibt es einen Pool. Dann gibt es noch die Gemeinschaftsanlage mit Fitnessraum, Lounge und Speisesaal. Vierundzwanzig Wissenschaftler, ein Dutzend Sicherheitsleute sowie diverse Dienstmädchen, Wartungsmonteure, Köche und Laborassistenten leben in Little Cam. Ich bin der Grund, weshalb sie alle hier sind, und ich bin der Grund, weshalb niemand von der Existenz dieses Ortes wissen darf.
»Wie viele Tests muss ich noch bestehen, bevor ich so weit bin, was glaubst du?«, frage ich.
Onkel Antonio zuckt mit den Schultern. »Darüber spricht Paolo nicht mit mir. Warum fragst du? Hast du es eilig? Ich dachte eigentlich, dass du von allen hier diejenige bist, die es am
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