Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Stromversorgung, aber ich ignoriere das. Fast bei jedem zweiten Gewitter fällt der Strom hier eine Viertelstunde oder so aus, bis Clarence das Notstromaggregat in Gang bringt. In einer Schublade habe ich eine Taschenlampe, nur für den Fall, aber draußen ist es schon so hell, dass ich sie nicht brauchen werde.
Nach dem Duschen und Anziehen jogge ich zum Speisesaal und schnappe mir in der Küche einen Bagel und eine Banane. Noch regnet es nicht, doch den dunklen Wolken nach zu urteilen, fängt es bestimmt bald an. Ich halte den Bagel zwischen den Zähnen, schäle die Banane und mache mich auf den Weg in den Fitnessraum. Bevor der Unterricht bei Onkel Antonio beginnt, ist noch Zeit für ein paar Runden auf dem Laufband.
Onkel Antonios Hauptaufgabe besteht darin, mich zu unterrichten. Laut dem Stundenplan, den Onkel Paolo aufstellt, kommt jeden Tag ein anderes Fach dran. Nach dem Wickham-Test gestern war es Mathe (es ging um Kombinatorik – ein Klacks). Heute ist Mikrobiologie dran. Morgen könnte es Botanik sein, Biomedizin, Zoologie, Genetik oder einer der vielen anderen Wissenschaftszweige, in denen die Einwohner von Little Cam brillieren. Eigentlich unterrichtet Onkel Antonio mich nur die Hälfte der Zeit, die andere Hälfte übernehmen die jeweiligen Wissenschaftler selbst. Onkel Antonio überwacht nur meine Fortschritte und erstattet Onkel Paolo am Ende jeder Woche Bericht.
Als ich ankomme, ist der Fitnessraum leer. Während ich laufe – das Patschen meiner Turnschuhe und das Summen des Laufbandes klingen in der leeren Halle überlaut –, versuche ich nicht an das gestrige Experiment zu denken. Nach dem letzten Wickham-Test meinte Mutter, es sei das Beste, einfach den nächsten Schritt ins Auge zu fassen. Nach vorn zu schauen und nicht zurück.
Damit meine Gedanken nicht in die Vergangenheit abgleiten, gehe ich den Terminplan für diesen Tag durch. Zwei Stunden mit Onkel Antonio. Mittagessen. Weitere fünf Stunden Unterricht. Abendessen. Malen mit Onkel Smithy. Noch ein paar Meilen laufen. Schwimmen. Lesen. Schlafen.
Ein Wunder, dass ich all das unterbringe, doch wenn ich freie Zeit hätte, würde Onkel Paolo sie bestimmt mit irgendetwas ausfüllen. Er behauptet, das Gehirn sei ein Muskel wie jeder andere auch und wenn man es nicht benutzt, wird es träge und die Leistung nimmt ab. Es gibt jede Menge zu tun in Little Cam. Da sind der Fitnessraum, der Pool, die Bibliothek voller Bücher zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Themen und die Lounge mit Spielen wie Schach und Backgammon. Außerdem wird in einem der Labors meist ein interessantes Experiment durchgeführt und die Wissenschaftler lassen mich oft zuschauen oder sogar mithelfen. Und dann ist da auch noch das Tierhaus mit all seinen Bewohnern, die ständig jemanden brauchen, der sie füttert, pflegt, bewegt oder streichelt.
Die Lichter flackern erneut und das Laufband ruckelt. Da ich damit gerechnet habe, drossle ich das Tempo und erhöhe es wieder, sobald der Strom erneut gleichmäßig fließt und das Band wieder rund läuft.
Ich werfe einen Blick auf das Display des Laufbandes. Zwanzig Kilometer. Nicht schlecht für eine halbe Stunde, auch wenn ich normalerweise schneller laufe. Ich drücke die Stopptaste, und anstatt zu warten, bis das Band langsamer wird, springe ich über den Handlauf und lande leichtfüßig auf den Fliesen. Ich wische mir die wenigen Schweißtropfen von der Stirn und gehe hinaus. Während ich zu meinem Zimmer jogge, beginnt es zu regnen, doch ich erreiche es, bevor ich völlig durchnässt bin.
Während ich auf Onkel Antonio warte, kümmere ich mich um meine Orchideen. Ich besitze zehn verschiedene Gattungen, Onkel Paolo hat jede speziell für mich gezüchtet. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Botanik. Eine der Gattungen, er hat sie Epidendrum aureus genannt, wurde genetisch so manipuliert, dass sie die Einzige ihrer Art ist.
»Ganz und gar einzigartig, genau wie du«, sagte er, als er sie mir vor drei Jahren schenkte. »Und siehst du? Ich habe sie ganz bewusst mit diesen Goldpünktchen gezüchtet. Sie sieht fast aus wie Elysia.«
Das ist der Onkel Paolo, den ich am besten kenne. Den abgeklärten Wissenschaftler, der Vögel in elektrisch geladene Käfige setzt, erlebe ich nur selten. Ich bewundere diese vernunftorientierte, vollkommen objektive Seite an ihm, bin aber froh, dass er nicht immer so ist.
Draußen lösen sich die Wolkenberge auf und es donnert auch nicht mehr. Das Gewitter hat sich verzogen.
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