Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Dünne Sonnenstrahlen lugen verstohlen durch die Bäume, als schämten sie sich, weil sie so lange weg waren.
Es ist Zeit, mich mit Onkel Antonio zum Unterricht zu treffen. Rasch besprühe ich meine Orchideen noch mit einer in Wasser aufgelösten Nährstoffmischung aus Kalium, Kalzium und Stickstoff, schnappe mir dann meine Büchertasche und marschiere den Flur hinunter. Im Gehen mache ich mir einen Pferdeschwanz. Mein Haar fühlt sich weich an. Ich habe dasselbe dunkle, glatte Haar wie meine Mutter, allerdings trägt sie es kurz. Vor der Küche bleibe ich stehen, halte mich am Türsturz fest und schwinge mich hinein. Mutter sitzt am Küchentisch und macht irgendwelche Berechnungen.
»Ich gehe zu Onkel Antonio.«
Sie blickt auf. Für einen kurzen Moment spiegelt sich Ärger auf ihrem Gesicht, dann glätten sich ihre Züge und sie ist so gefasst wie immer. Den Ärger ignoriere ich; so reagiert sie immer, wenn ich sie unterbreche. »Vergiss nicht, heute Nachmittag ist dein monatliches MRT bei Onkel Paolo.«
Ich lege den Kopf schief und blicke sie stirnrunzelnd an. »Vergessen? Ich?« Möglich, dass sie einmal etwas vergisst. Oder Onkel Antonio. Aber nicht ich. Niemals.
»Stimmt ja«, sagt sie und betrachtet mich von oben bis unten. »Du hast recht. Du bist perfekt.«
Ich winke ihr zum Abschied zu. Während ich zur Haustür gehe, spüre ich eine plötzlich Kälte an der Nasenwurzel, genau zwischen den Augen. Von allen Bewohnern von Little Cam ist meine Mutter die Einzige, die nie lächelt, wenn sie das sagt.
* * *
Später am Nachmittag, nach dem Unterricht und der Magnetresonanztomografie – die nichts Neues zeigte – sitze ich im Tierhaus und bürste Alai. Plötzlich plärrt die Alarmanlage los. Alai ist der hundert Kilogramm schwere Jaguar, den Onkel Paolo mir zu meinem neunten Geburtstag geschenkt hat. Alai war damals noch ein Jungtier. Er lässt niemanden in Little Cam an sich heran außer mir, Onkel Antonio und Jacques, den Koch, der ihm jeden Morgen Kekse bringt. Alai ist verrückt nach Keksen.
Die Alarmanlage dröhnt zwei Mal kurz hintereinander. Die Affen hinter mir antworten mit Gekreisch. Sie bilden sich gern ein, dass sie das Sagen im Tierhaus haben, doch mir können sie nichts vormachen.
»Ach, haltet doch die Klappe, ihr Viecher«, schimpfe ich, drehe mich um und drohe ihnen mit Alais Bürste. Ein großer orangebrauner Brüllaffe, wir nennen ihn »den Griesgram«, schaut mich direkt an und lässt sein fürchterliches Gebrüll hören. Als ich klein war, hatte ich immer Angst vor den Brüllaffen, heute verdrehe ich nur die Augen.
»Komm, Alai!«, rufe ich und gehe zur Tür. Das Tierhaus ist ein lang gestreckter, niedriger Betonbau mit festgetretener Erde und einem großen Panoramafenster in jedem Käfig. Die meisten Tiere hier sind Versuchstiere – auch einige unsterbliche Bewohner sind darunter –, doch mit Alai dürfen keine Experimente gemacht werden. Er gehört ganz allein mir.
Nachdem ich die schwere Metalltür hinter mir geschlossen habe, beginne ich zu rennen. Alai springt in großen Sätzen hinter mir her. Seine gewaltigen Tatzen machen keinerlei Geräusch auf dem Weg. Ich muss fast um ganz Little Cam herumlaufen, bevor ich das Tor erreiche. Mein Herz rast, nicht vom Laufen, sondern vor Aufregung. Wenn der Alarm zwei Mal ertönt, heißt das, der Versorgungswagen ist da.
Er kommt nur alle paar Monate mit einer Lieferung, sodass seine Ankunft immer etwas Besonderes ist. Onkel Timothy, ein hünenhafter Muskelprotz mit tiefschwarzer Haut, ist für den Transport durch den Dschungel bis zum Little Mississip und zu uns verantwortlich. Der Little Mississip ist ein Fluss, der dicht an Little Cam vorbeifließt. Was jenseits davon ist, weiß ich nicht, aber der Weg muss sehr weit sein, denn für jeden Transport braucht er fast zwei Monate. Einmal bat ich Onkel Paolo, mir eine Karte mit Onkel Timothys Route zu zeigen, aber er verbot mir, ihn oder sonst jemanden jemals wieder danach zu fragen.
Das Tor ist der einzige Zugang zum Gelände und jetzt schwingt es auf, damit die Fahrzeuge passieren können. Es sind drei riesige, tuckernde Lastwagen mit Planen und schlammigen Rädern. Fauchend und klappernd biegen sie auf den unbefestigten Weg zum Speisesaal ein und kommen zitternd zum Stehen. Onkel Timothy springt vom ersten Truck. Seine Glatze glänzt vor Schweiß. Er hat sich ein Taschentuch vor Mund und Nase gebunden, und als ich auf ihn zulaufe, zieht er es herunter und lächelt. Von allen
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