Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Labortür, als Tante Harriet hinausgeht. Ich ergebe mich in meine einstündige Tortur, drehe mich um und mache mich daran, den kleinen Raum zu inspizieren. Rechts und links von mir sind zwei Reihen Regale voller Plastikbehälter. Die Behälter sind mit langen Codes aus Buchstaben und Zahlen beschriftet und auf manchen sind sogar bunte Aufkleber. Ich muss mir diesen Kühlschrank aus einem bestimmten Grund ausgesucht haben und dieser Grund steht auf dem zweiten Regalbrett, ungefähr auf der Höhe meines rechten Ellbogens. Es ist ein Behälter mit Exemplaren von Anopholese darlingi – Moskitos, mit denen ich in meinen Studien über Malaria mit Onkel Haruto und meinem Vater gearbeitet habe. Für heute war wieder eine Stunde angesetzt. Ich werde also sagen, dass ich früh in die Gänge kommen wollte und versehentlich die Tür hinter mir schloss.
Als ich fröstelnd auf dem Boden der Kühlkammer sitze, kann ich an nichts anderes denken als an die intensive Wärme der Feuer in Ai’oa. Sie sind um so vieles stärker, wilder und gefährlicher als die elektrischen Heizgeräte, die wir in Little Cam benutzen. Ich würde hier drin gern ein Feuer machen, aber es gibt nichts zu verbrennen außer Gewebeproben, und die würden keine zehn Minuten brennen.
Ich wünsche mir mehr offene Feuer in Little Cam, genauso wie ich mir wünsche, es gäbe Kinder hier. In Little Cam spricht niemand über Kinder. Falls einige der Arbeiter oder Wissenschaftler Kinder haben, erwähnen sie sie nicht. Wahrscheinlich aber hat niemand welche oder sie sind alle schon erwachsen und zu Hause ausgezogen. Warum würden ihre Eltern sie sonst verlassen? Ich habe schon jetzt den Eindruck, als sei die Welt ein wenig dunkler ohne das Lachen der Kinder und ihre Spiele und den Quatsch, den sie machen. Ich beneide Eio um sein Leben mit ihnen und überlege, wie anders mein eigenes Leben verlaufen wäre, wenn ich früher mit anderen Kindern in meinem Alter hätte spielen können.
Aber Little Cam ist kein Ort für Kinder. Sie können hier nicht herumrennen und spielen und außerdem sagt Onkel Paolo ja immer, dass alles, was nicht zur Forschung beiträgt, irrelevant und unnütz sei. Er würde sicher behaupten, dass Kinder nur im Weg sind und Sachen kaputt machen und alle von ihrer eigentlichen Arbeit abhalten. Als ich klein war, ist Onkel Antonio mir überallhin gefolgt, hat dafür gesorgt, dass ich niemandem zwischen den Beinen herumlaufe und keine wichtigen Experimente störe. Er hat mir beigebracht, wie man schwimmt, liest, addiert und subtrahiert. Ich stelle mir vor, wie die Kinder von Ai’oa versuchen, so lange still sitzen zu bleiben, wie ich es musste, wenn ich mit Onkel Antonio Quadratwurzeln gezogen und komplizierte Divisionsaufgaben gelöst habe. Es wäre der Albtraum für sie. Sie haben mehr Energie, als ich je hatte – das heißt, vielleicht hatte ich sie auch, aber ohne Spielkameraden habe ich nie gelernt, sie rauszulassen. Ich wusste immer nur, wie man als Erwachsener zu sein hat, nein, nicht nur irgendein Erwachsener, sondern wie ein Wissenschaftler. Bereits im Alter von vier Jahren wurde ich auf meinen späteren Platz im Immortis-Team vorbereitet.
Ich rede mir ein, dass Onkel Paolo recht hat. Meine Begeisterung für die kleinsten Ai’oaner lässt mich nur die Kontrolle über meine Gefühle verlieren. Und es gibt nichts Gefährlicheres als Kontrollverlust, höre ich Onkel Paolo sagen. Es ist einer seiner Lieblingssprüche.
Tief drinnen weiß ich, dass ich an all das nur denke, um einen anderen Gedanken nicht an mich heranzulassen: Den Gedanken an diesen dunklen Flur und die kleinen Räume, an die seltsamen Ketten und die Kratzspuren auf der Holzbank. Und das Feuer? Warum haben sie mich angelogen?
Eine Frage jagt mir eisigere Schauer über den Rücken als der Kühlschrank, in dem ich sitze: Was verbergen sie vor mir?
Um nicht weiter nachdenken zu müssen, hämmere ich an die Tür, als hätte ich das schon den ganzen Morgen getan. Ich hämmere so lang und so fest gegen das mit Raureif überzogene Metall, dass ich fast meine eigene Lüge glaube. Jedenfalls ist mir kalt genug, um mich selbst zum Narren zu halten.
Als die Tür aufgeht, bin ich halb erfroren und so verzweifelt, dass ich auch Sekunden, nachdem sie mich bereits in Decken gewickelt haben, immer noch mit den Fäusten trommle. Erst als ich begriffen habe, dass ich tatsächlich draußen bin und Onkel Antonio und Mutter und Onkel Paolo und Tante Harriet da sind und mich mit ihrer Fürsorge
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