Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
vor wie ein Traum: verschwommen, fremd, unmöglich.
Habe ich das wirklich getan? War ich dort? War es Realität? Mein Herz schmerzt, wenn ich an die wilden, temperamentvollen Menschen denke. Ich merke, wie sehr ich sie vermisse. Jetzt, da das Loch im Zaun repariert ist, werde ich sie wohl kaum wiedersehen. Es gibt so viele Fragen, die ich ihnen gern gestellt hätte. Wie lange leben sie schon hier, so dicht bei Little Cam? Was halten sie von uns Wissenschaftlern? Ich muss wieder an Eios Worte denken: »Weshalb sollten die Geister sonst eine Unvergängliche schicken?«
Ich halte mich am Beckenrand fest und wische mir das Wasser aus den Augen. Die Kälte, die ich empfinde, kommt nicht von der Wassertemperatur. Hat es also schon andere wie mich gegeben?
Und gibt es sie immer noch?
Die Frage ist neu und kommt unerwartet, noch nie hat sie jemand in Little Cam gestellt – zumindest meines Wissens nach nicht. Ist es möglich, dass die Menschen in Ai’oa mehr wissen, als wir vermuten? Hat man je daran gedacht, sie zu fragen? Es ist schließlich ihr Land. Falls es jemanden gibt, der die Geheimnisse von Elysia kennt, wären es dann nicht sie? Die Fragen, die ich Eio stellen möchte, wenn ich ihn wiedersehe, überschlagen sich in meinem Kopf.
Eio.
Beim Gedanken an ihn scheinen die Fragen plötzlich weniger wichtig und die Kälte weicht einer unerwarteten Wärme.
Eio ist so vollkommen anders als alle, die ich je kennengelernt habe. Er ist in meinem Alter, das ist schon mal das eine, aber das ist nicht alles. Er ist kein richtiger Ai’oaner und zu Little Cam gehört er definitiv auch nicht. Mehr als alles andere scheint er ein Teil des Dschungels zu sein. Jedenfalls ist das mein Eindruck von ihm. Schließlich habe ich ihn im Regenwald kennengelernt. Ich stoße mich vom Beckenrand ab, lasse mich auf dem Rücken treiben und betrachte den Regen, der aufs Glasdach trommelt. Ich stelle mir vor, wie er an den Wänden herunter ins Wasser läuft. Und dass ich im selben Regen schwimme, der auf Ai’oa fällt. Und auf Eio. Der Junge mit nussbrauner Haut und Augen von der Farbe des Regens. Der Junge, der mir die andere Seite der Welt gezeigt hat. Selbst jetzt spüre ich noch seine Berührung beim Tanzen und seinen warmen Arm unter meinem Kopf, als ich schlief.
Ich will ihn wiedersehen. Ich muss ihn wiedersehen. Ich möchte Ai’oa wiedersehen und Luri und die Drei und die Tänze um die Feuerstellen, aber in erster Linie möchte ich Eio wiedersehen. Um ihm Fragen zu stellen, ja, aber auch um ihm zuzuhören, wenn er mit seinem schönen Akzent spricht. Um seinen Geschichten von der Jagd auf Anakondas und der Suche nach Jaguaren im Dschungel zu lauschen. Sein Leben ist so anders als meines, ich bezweifle, dass ich ihn je ganz verstehen kann. Doch meine Faszination wird dadurch nur größer.
Wer ist dieser Junge aus dem Dschungel? Was bedeutet er mir?
Nichts, zischt eine scharfe, kritische Stimme in mir. Der giftige Ton überrascht mich. Und nichts muss er bleiben. Er stellt eine Gefahr dar. Eine Unwägbarkeit. Nichts für dich. Nichts für dich.
Es ist meine Wissenschaftlerstimme, die Stimme, mit der ich rede, wenn ich Onkel Antonios Testfragen beantworte oder beschreibe, was ich unter dem Mikroskop im Labor sehe. Die Stimme macht mich wütend, ich möchte mit dem Fuß aufstampfen wie ein kleines Kind. Doch ich gebe klein bei, lasse mich Kopf voraus ins Wasser gleiten wie ein Otter und setze mich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden des Pools.
Kann eine Unsterbliche wirklich nicht ertrinken?
Ich erfahre es nicht, denn sobald mir die Luft ausgeht, stoße ich mich ab, durchbreche die Wasseroberfläche und atme tief die feuchte Luft ein.
Wieder in meinem Zimmer trockne ich mich ab, ziehe eine karierte Flanellhose und ein Top an, werfe mich aufs Bett und bereite mich auf einen faulen Abend vor. Schwimmen strengt mich nicht an – nichts strengt mich an –, aber im Moment langweilen mich der Fitnessraum und die Lounge und alles andere in Little Cam. Dieses Problem hatte ich früher nie. Bisher gab es immer etwas zu tun. Wenn Onkel Paolo auf etwas ganz besonders achtet, dann darauf, dass ich mich nicht langweile. Wenn du ewig lebst, ist es kein gutes Zeichen, sich bereits mit siebzehn am Leben zu langweilen.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass meine Mutter nicht zu Hause ist, ziehe ich die Karte unter dem Teppich hervor und breite sie auf meinem Bett aus.
Ich umfahre die »Asien« genannte Landmasse mit dem Zeigefinger
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