Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
sind so unschuldig, so ahnungslos. Wenn ich daran denke, dass ich den Tod in meinen Händen halte, wird mir schlecht.
»Es ist schrecklich, so etwas von jemandem zu verlangen«, sagt Tante Harriet.
»Wer ist Evie?«
»Eine ehemalige Kollegin. Niemand Wichtiges«, antwortet Tante Harriet rasch. »Und – wirst du es tun?«
»Irgendwann. Heute nicht.« Ich bin noch nicht so weit, genau wie Onkel Paolo sagt. Ich brauche Zeit, um mich darauf vorzubereiten, meine Nerven zu stählen und meinen Magen. Und ich will Strauss nicht die Genugtuung verschaffen, es zu schnell »hinter mich zu bringen«.
»Ich halte es für barbarisch. Was sollst du damit überhaupt beweisen? Was verlangen sie als Nächstes von dir, nachdem du ihnen gezeigt hast, dass du keinerlei moralisches Empfinden mehr hast?«
Moral. Dieses Wort hört man in Little Cam nicht oft. Es wird im Verborgenen gehalten, zusammen mit Worten wie Liebe und San Francisco. »Ich weiß es nicht. Aber schlimmer als das kann es nicht sein, oder?«
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß weniger als du. Ich bin neu hier. Vergessen?«
»Er ist doch noch ein Baby.«
Tante Harriet beobachtet mich, wie ich Sneeze beobachte. Dann setzt sie sich mit untergeschlagenen Beinen neben mich, die Hände hat sie unter dem Kinn verschränkt. »Du willst es nicht tun.«
»Natürlich nicht!«
»Das ist gut. Es bedeutet, dass du ein Mensch bist.«
Ich schaue sie an und merke, dass mir die Tränen kommen. »Wenn ich ein richtiger Mensch wäre, gäbe es nur eines für mich, genau wie für Onkel Paolo, nämlich die Fortentwicklung meiner Spezies. Irgendein blödes Tierjunges würde mich nicht kümmern.«
Tante Harriet presst die Lippen zusammen. »Das haben sie dir wahrscheinlich so beigebracht. Aber was soll’s. Wie kann ich aus der großen weiten Welt, von der du noch nie etwas gehört hast, daherkommen und dir sagen wollen, was Recht ist und was Unrecht, wenn das all diese herausragenden Wissenschaftler schon getan haben? Aber du willst eigentlich nicht auf sie hören, stimmt’s? Du wünschst, es gäbe einen anderen Weg.«
Ich nicke nur, da ich meiner Stimme nicht traue.
»Das ist dein moralischer Kompass, Pia.«
»Mein was?«
»Moralischer Kompass. Sie versuchen ihn zu manipulieren, damit er in die falsche Richtung zeigt, aber er wehrt sich, dreht sich immer wieder in die entgegengesetzte Richtung. Spürst du das nicht?«
Doch, ich spüre es und ich frage mich, woher sie es weiß. Genau so fühle ich mich.
»Dein moralischer Kompass«, wiederholt sie.
»Willst du damit sagen, dass ich es nicht tun sollte?«, frage ich und halte die Spritze hoch. »Dass ich alles aufgeben sollte – all meine Träume – für ein unbedeutendes Leben?«
»Du solltest…« Sie zögert und ihre Augen spiegeln Dinge wider, die ich nicht verstehe. Normalerweise kann ich Menschen ganz gut einschätzen, aber Tante Harriet ist wie ein Buch mit sieben Siegeln für mich. »Du solltest es dir gründlich überlegen, Pia«, sagt sie schließlich. »Und vor allem: Bedenke den Preis, den du dafür bezahlst. Frage dich, was sie tatsächlich von dir verlangen. Schau dir die Pia von heute an und überlege dir, wie sie dich haben wollen.«
»Perfekt«, antworte ich automatisch. »Sie wollen, dass ich perfekt bin.«
»Perfekt«, wiederholt sie ausdruckslos. »Was perfekt ist, liegt im Auge des Betrachters.«
»Woher hast du das denn?«
»Ein Mann namens Plato hat einmal etwas Ähnliches gesagt. Ich nehme nicht an, dass sie dir von Plato erzählt haben, oder? Ich seh schon, die Antwort lautet nein. Ich hätte es mir denken können. Sieh zu, dass dir der Name nicht irgendwann herausrutscht, sonst kommen wir beide in Teufels Küche. Und im Moment muss ich mich schon mit genügend anderen potenziellen Problemen herumschlagen, herzlichen Dank auch. Also halt den Mund.«
Sie erhebt sich und klopft Stroh und Staub von ihrer Jeans.
Als sie gehen will, fällt mir etwas ein. »Tante Harriet?«
»Ja?«
»Jeder, der nach Little Cam kommt, muss sich einem Test unterziehen. Was war deiner?«
Sie dreht den Kopf so, dass ich hinter ihren roten Kräusellocken ihr Gesicht nicht sehen kann. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
Damit verlässt sie rasch das Tierhaus. Ich bleibe zurück, allein mit den Tieren und der Spritze in meiner Hand.
22
Es ist vierzehn Uhr. Um diese Zeit gehe ich normalerweise in den Fitnessraum, doch heute muss ich hinter Onkel Paolo herdackeln, der unsere Gäste durch Little Cam führt. Ich
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