Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
ist noch nicht der letzte. Es folgen noch drei –«
»Es ist der letzte und er findet morgen statt.«
»Ich – Mrs Strauss, das geht nicht. Es ist zu früh. Sie ist noch nicht bereit.«
»Aber sie wird bereit sein. Ab morgen.«
»Mrs Strauss, bitte! Ich –«
»Morgen.« Sie senkt die Stimme und ich muss mich anstrengen, um sie zu verstehen. »Ich will offen mit Ihnen reden, Alvez, denn wir wissen beide, wozu Corpus in der Lage ist. Erinnern Sie sich an Geneva?«
Schweigen.
Dann fährt Strauss fort: »Mir fallen mindestens zwanzig Wissenschaftler ein, die töten würden für die Chance, Ihren Job zu machen. Ihren Job und die Jobs all Ihrer Mitarbeiter. Lassen Sie es nicht so weit kommen. Ich schwöre Ihnen, Alvez, wenn Sie sich in dieser Sache widersetzen –«
Ein ersticktes Murmeln von Onkel Paolo.
»Was war das?«, hakt Strauss nach.
»Es wird nicht so weit kommen. Wie Sie sagten. Morgen.«
Ich höre das Rascheln von Papier und Schritte und vermute, dass die Unterhaltung hiermit zu Ende ist.
Mit klopfendem Herzen renne ich aus dem Gebäude. Meine Haut hat die Temperatur von flüssigem Stickstoff.
21
Als ich aufwache, scheint wie gewohnt die Sonne auf das Glasdach. Das Licht ist grün, gefiltert von vielen Lagen Blätter zwischen Dach und Himmel, und es fällt sanft auf mich. Ich könnte ohne Weiteres sofort wieder einschlafen. Aber mein Wecker ist gnadenlos.
Dann fällt mir die Unterhaltung zwischen Onkel Paolo und den Corpus-Vertretern wieder ein und ich setze mich kerzengerade und hellwach auf.
Sie testen mich heute. Ich kralle die Finger in die Bettdecke, bis meine Knöchel weiß werden. Und es ist der letzte Test.
Es klopft und ich falle fast aus dem Bett. Das Timing ist gespenstisch. Es ist Mutter.
»Dein Stundenplan hat sich geändert, Pia«, verkündet sie. »Du sollst in einer halben Stunde bei Dr. Alvez im Tierhaus sein.« Sie kommt hereinmarschiert und zieht mir mit einem Ruck die Decke weg.
»He!« Beleidigt ziehe ich die Knie an.
Mutter setzt sich auf die Bettkante und beugt sich dicht zu mir. »Du musst stark sein, Pia. Jetzt geht es um alles. Alles. Du musst alles tun, was sie verlangen, sonst nehmen sie uns Paolo.« Sie packt mich vorne am T-Shirt. Ich bin so erschrocken, dass ich mich nicht wehre. »Ich darf ihn nicht verlieren, Pia. Verstehst du mich? Paolo ist… Ich darf ihn nicht verlieren.«
Ihre Finger sind eiskalt, die Augen verquollen von zu wenig Schlaf. Hat sie gestern Nacht noch mit Onkel Paolo geredet? Hat er ihr von Strauss’ und Laszlos Drohungen erzählt? Ich wusste immer, dass Mutter Onkel Paolo verehrt, doch in ihrem Blick liegt etwas so Eindringliches, wie ich es noch nie gesehen habe. Sonst ist sie reserviert und beherrscht. Sie so zu sehen, macht mich nervös. Hoffentlich verschwinden Strauss und Laszlo bald, damit hier alles wieder seinen gewohnten Gang geht.
»Ich stehe jetzt auf«, flüstere ich. »Alles wird gut. Du wirst sehen. Ich bin bereit.«
Sie hält mich noch einen Moment lang fest, dann seufzt sie und lässt los. Bevor sie hinausgeht, schaut sie sich noch einmal um und sagt: »Das will ich dir auch raten. Denn ich werde alles tun, um ihn hier zu halten.«
Ich glaube ihr aufs Wort.
Im Tierhaus sind nicht nur Onkel Paolo, Laszlo und Strauss – heute in einem anderen weißen Hosenanzug –, sondern auch Tante Harriet. Sie und Jonas Brauer, der Leiter des Tierhauses, reden über ein krankes Seidenäffchen in einem Drahtkäfig. Sie sehen mich und winken, fahren aber in ihrer Unterhaltung fort.
Eine gewisse Besorgnis rührt sich in mir, als ich auf Onkel Paolo zugehe, doch ich bin wild entschlossen, den Test zu bestehen, egal was er von mir verlangt. Ich denke an mein unsterbliches Volk. Ein Volk von Brüdern und Schwestern und Freunden, die nie sterben werden. Eine unsterbliche Familie, unangefochten von Leid und Tod, die nur das Leben und die Liebe und die Schönheit kennt. Ich versuche sie mir vorzustellen, versuche vor meinem geistigen Auge ihre Gesichter erstehen zu lassen… aber ich sehe nur einen Jungen mit blauen Augen, der am Fluss sitzt und mir die Sterne schenkt.
Ich zwinge mich, stattdessen an Mutter und Onkel Paolo zu denken und daran, wie stark und beherrscht sie sind. Ich kann sein wie sie, denke ich. Ich kann es schaffen. Sie haben mich aufgrund meiner Unsterblichkeit schon immer voller Stolz betrachtet, aber ich will ihnen zeigen, dass mehr in mir steckt, dass ich stark und diszipliniert bin. Ein Kreis und eine
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