Die einzige Zeugin
Haus in der Hazelwood Road wiedergesehen hatte. Da hatte sie versucht, Gefühle heraufzubeschwören, die sie zehn Jahre zuvor vielleicht gehabt hatte. Genau wie jetzt hatte sie sich leer gefühlt, bis auf einzelne merkwürdige unverbundene Erinnerungsfetzen.
Der Brief war kurz. Lauren zwang sich, ihn zweimal zu lesen. Während sie las, konnte sie Jessica hören, die sich laut in der Küche zu schaffen machte. Sie hatte das Radio angestellt. Orchestermusik, Gesang, ein Horn und Geigen. Dann hörte die Musik auf, und es wurde still. Der Inhalt des Briefs schien plötzlich ernster zu werden.
Liebe Lauren,
es ist schon eine Weile her, seit ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Durch den Familienfunk höre ich, dass es dir gutgeht, und darüber bin ich froh. Mir geht es auch gut, obwohl der Arzt meinen Blutdruck zu hoch findet und mir ein neues Asthmamittel verschrieben hat.
Ich schreibe dir nach all dieser Zeit, weil ich dir sagen möchte, dass ich im Herbst erneut vor Gericht Berufung einlegen werde. Der Termin ist für den 3. September angesetzt, aber das kann sich noch ändern. Meine Anwältin ist sehr zuversichtlich. Ich wollte dir davon erzählen, weil sicherlich viele Zeitungen von dem Prozess berichten werden, wie auch bei meiner ersten Berufung vor ein paar Jahren, und du natürlich davon betroffen sein wirst.
Das tut mir sehr leid. Ich wünschte, ich könnte das verhindern. Ich denke jeden Tag an dich und stelle mir vor, wie du wohl bist. Wenn das alles vorbei ist, können wir uns hoffentlich endlich wiedersehen.
Eine Sache musst du unbedingt wissen: Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was mit mir passiert ist. Du warst damals noch ein kleines Mädchen. Das habe ich nicht vergessen. Ich werde dir nie die Schuld daran geben. Niemals.
Alles alles Liebe,
Papa.
Lauren hob den Kopf. Sie hörte Jessica auf der Treppe. Sie rechnete mit einem Klopfen an ihrer Tür und dass Jessica hereinschaute, aber ihre Tante ging weiter in ihr eigenes Zimmer. Eigentlich sollte sie ihr den Brief zeigen. Was hatte das zu bedeuten? Er wollte ein zweites Mal in Berufung gehen und die Sache würde durch alle Zeitungen gehen. Er machte sich Sorgen, welche Konsequenzen das für sie haben könnte.
Sie starrte auf das Papier, auf die säuberlich gedruckten Buchstaben und die schiefe Unterschrift darunter. Am unteren Ende des Bogens war die Gefängnisadresse aufgedruckt. Nunchester Durham. Das war im Norden. Waren ihre Großeltern deshalb nach Nordengland gezogen? Um näher bei ihrem Sohn zu sein? Oder um so weit wie möglich von London wegzukommen?
Ein zweites Mal in Berufung.
Das erste Mal war er in Berufung gegangen, als sie neun war. Sie erinnerte sich, dass Donny und Jessica ihr davon erzählt hatten. Sie hatten ihr erklärt, dass es ein oder zwei Tage dauern würde und dass vielleicht etwas darüber in der Zeitung stehen würde. Nur für den Fall, dass jemand in der Schule oder in der Stadt eine Bemerkung machte. Auch wenn niemand in St. Agnes auf die Idee gekommen wäre, Lauren Ashe mit der Berufung von Robert Slater in Verbindung zu bringen, der wegen Doppelmordes zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt war. Sie hatte den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen, und niemand in St. Agnes wusste, was diese kleine Patchworkfamilie hierher verschlagen hatte, Donny Greene und Jessica und Lauren Ashe, Flüchtlinge aus London, aus der Hazelwood Road.
Sie faltete den Brief wieder zusammen. Die neue Berufung würde vermutlich einen weiteren Prozess bedeuten. Davon hatte sie genug im Fernsehen gesehen. Aber sie war noch nie im Gericht gewesen. Mit sieben war sie zu klein gewesen, um selbst im Zeugenstand zu stehen. Sie war mit Jessica und Donny auf das Polizeirevier in Exeter gegangen. Es war ein modernes Glasgebäude, in dem ständig Leute aus Türen herauskamen oder in sie hineingingen und pausenlos das Telefon klingelte. Sie erinnerte sich noch, dass sie ihre neue Schuluniform getragen hatte. Sie hatte sie nicht anziehen wollen, aber Jessica hatte darauf bestanden. Nachdem sie den ganzen Sommer am Strand verbracht hatten, sahen all ihre Kleider ausgewaschen und alt aus und waren ihr etwas zu klein. Sie kratzten ein bisschen auf der Haut, als wäre der Sand bis ins Gewebe gedrungen. Die einzige neue Kleidung, die sie hatte, war ihre Schuluniform, ein grünes knielanges Kleid, ein Blazer, weiße Socken und schwarze Schuhe.
Mit dem Aufzug fuhren sie ins oberste Stockwerk. Als sich die Tür öffnete, lag vor ihnen ein Warteraum
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