Die Eisbärin (German Edition)
einmal kahlköpfig sein würde, hatte sich durch deutliche Geheimratsecken schon abgezeichnet, als er 20 Jahre alt gewesen war.
Er betrachtete sein Gesicht, sah die dichten, buschigen Brauen über den tiefliegenden Augen, musterte die grob geschnittene Nase, das fleischige Kinn über dem kurzen Hals. Das verlorene Haupthaar, so erschien es ihm, war in Form von Nasen- und Ohrenbewuchs zurückgekehrt. Es war ein Gesicht, das er früher verabscheut hatte. Er wusste, dass es ebenso auf andere Menschen wirkte, auch wenn die meisten sich bemühten, ihre Emotionen zu verbergen. Nie hatte ihn eine Frau angesprochen oder auf anderen Wegen Interesse bekundet. Die wenigen Situationen, in denen er selbst aktiv geworden war, hatten stets in einer enttäuschenden Abfuhr geendet. Im besten Fall waren diese Absagen zumindest behutsam verpackt worden. Schließlich war Lüscher es leid gewesen und hatte beschlossen, sich nie wieder demütigen zu lassen.
Sein Blick im Spiegel wanderte weiter, über seinen stattlichen Bauch hinab zu seinem Geschlecht. Inmitten des dichten Bewuchses war sein Genital nur undeutlich zu erkennen. Die Zeiten, in denen er sich über sein Äußeres geärgert hatte, waren lange vorbei. Er wusste, dass ihn seine Alkoholsucht irgendwann ins Grab bringen würde. Aber er hatte sich damit arrangiert und einen Weg gefunden, seine wenigen Bedürfnisse zu befriedigen.
Während er sich die Zähne putzte, dachte er an die schweren Fehltritte, die er in seinem Leben begangen hatte. Er hatte die Schuld dafür nie bei sich gesucht, sondern immer auf seine Lebenssituation geschoben, die vom Schicksal so negativ geprägt worden war. Je älter er wurde, desto mehr glaubte er jedoch, dass der Schöpfer, vor dem er sich einst würde verantworten müssen, in diesem Punkt gänzlich anderer Auffassung war.
Nachdem er sich angezogen hatte, ging er in die Küche und schenkte sich ein großes Glas Jim Beam ein. Die goldbraune Flüssigkeit breitete eine angenehme Wärme in ihm aus und dämpfte seine Nervosität. Er öffnete eine der Schubladen und holte ein Bündel Geldscheine hervor, insgesamt sechs 50-Euro-Scheine. Er legte das Geld auf den Küchentisch und trank den restlichen Whiskey in einem langen, gierigen Schluck. Das leere Glas war kaum abgesetzt, als es läutete. Er ging zur Wohnungstür und betätigte den Summer. Zwei Minuten später klopfte es, und er öffnete die Tür.
Die junge Frau im Hausflur war ihm bereits bekannt, was ihn außerordentlich freudig stimmte.
„Guten Abend, kommen Sie rein“, sagte er und verbeugte sich leicht.
Die Frau nickte knapp und folgte ihm durch die Wohnung.
„Hier hinein, bitte.“
Mit einem kaum merklichen Lächeln auf den Lippen schloss er hinter ihr die Schlafzimmertür.
Aufgrund der besonderen Vorkehrungen, die er getroffen hatte, sollte während der nächsten 30 Minuten nicht ein einziger Laut aus dem Zimmer im fünften Stock dringen.
Sonntag, 09. Oktober, 02.30 Uhr
Sabine lag in ihrem Bett, die Augen geschlossen. Um sie herum nur der schwache Schein der Nachttischlampe und die regelmäßigen leisen Atemzüge des Mädchens neben ihr.
Es war die Zeit, in der das Bewusstsein langsam vom Tag in die Nacht hinübergleitet, vom Wachen zum Schlaf. Bei anderen Mädchen ihres Alters verarbeitete der Geist die Erlebnisse des Tages und ließ bunte, kindliche Träume daraus entstehen. Bei ihr war es ein Zustand der nackten Angst.
Plötzlich flog die Zimmertür auf und schlug krachend gegen die Wand. Wie konnte das sein? Kein Hüsteln, keine Schritte, nichts hatte sie gehört, was eine Ankündigung hätte sein können. Panisch zog sie die Bettdecke über den Kopf. Heftiges Zittern erfasste ihren ganzen Körper. Jeden Augenblick rechnete sie mit dem Übergriff, den groben Fingern in ihrem Fleisch, dem stinkenden Atem, den Schmerzen und dem lähmenden Gefühl entsetzlicher Scham. Zäh verstrichen die Sekunden, ohne dass ihre Angst bittere Realität wurde.
Plötzlich erfüllte ein leises Wimmern den Raum. Sie nahm all ihren Mut zusammen, schob die Decke zurück, drehte den Kopf und blinzelte in Julias Richtung. Zunächst konnte sie nur undeutlich und schemenhaft sehen. Nach und nach wurde das grausame Bild deutlicher. Dann erkannte sie Herbert Lüscher, der sich über ihre Freundin beugte und sie gewaltsam bedrängte.
Doch etwas stimmte nicht an dieser grausigen Szenerie, etwas war auf groteske Weise noch beängstigender als sonst. Sabine fokussierte ihren Blick und wusste plötzlich,
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