Die Eisbärin (German Edition)
was es war. Der Peiniger war stark gealtert, es war die Gestalt aus dem Supermarkt. Ihr Herz begann zu rasen. Ihr Blick wanderte zu Julia, die gerade den Kopf zu ihr drehte. Es war, als träfe sie ein vernichtender Donnerschlag. Das Mädchen, das unter ihrem Lehrer grausame Qualen erlitt, war nicht Julia. Es war ihre eigene Tochter.
Der markerschütternde Schrei schien sie innerlich zu zerreißen. Sie war am Ende all ihrer Kraft und gab auf. Sabine ließ alles heraus, alle erlittenen Qualen, gebündelt in einem langen, gellenden Ausbruch ihrer geschändeten Seele.
Plötzlich schien das Bett zu beben. Sie wurde hin- und hergeworfen. Der Abgrund zur Hölle öffnet sich und verschlingt mich, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr Bewusstsein in eine andere Ebene wechselte.
„Sabine! Wach auf! Oh Gott, wach doch endlich auf!“
Markus schüttelte seine Frau an der Schulter.
Sabine richtete sich auf, das Nachthemd auf ihrer Haut war schweißverklebt. Das Herz in ihrer Brust drohte zu zerspringen. Panisch und zitternd tasteten ihre Augen das Halbdunkel ab und versuchten, sich zu orientieren.
„Sabine, Liebling. Du hast geträumt. Mein Gott, es muss schrecklich gewesen sein.“
Sanft nahm Markus ihren Arm, doch Sabine zuckte zurück.
„Wo ist Laura?“, brachte sie gepresst hervor.
„Laura? In ihrem Zimmer. Es ist halb drei Uhr nachts. Sie schläft“, antwortete er, das Gesicht von Sorge gezeichnet.
Sabine war bereits im Begriff aufzuspringen, als beide ein Geräusch vernahmen. Schlaftrunken betrat Laura das Zimmer ihrer Eltern.
„Mami“, hauchte sie mit ängstlicher Stimme, „du hast geschrien.“
„Komm her, Liebes“, flüsterte Sabine, „Mami hat nur schlecht geträumt.“
Der Anblick ihrer ängstlichen Tochter brach ihr beinahe das Herz. Sie spürte eine tiefe Erleichterung, als sie Laura in die Arme schloss. Sie war unversehrt.
„Du darfst heute Nacht hierbleiben.“
Ohne zu zögern, krabbelte Laura ins Bett und kuschelte sich eng an ihre Mutter. Sabine wagte nicht, sich zu bewegen. Sie wusste, dass ihr Nachthemd nicht nur vom Schwitzen nass geworden war. Ihr Alptraum war derart real gewesen, dass sie eingenässt hatte. So wie es früher regelmäßig geschehen war. Sie hoffte inständig, dass weder ihr Mann noch ihre Tochter etwas bemerken würden. Und tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, bis Markus und Laura wieder eingeschlafen waren.
Für Sabine jedoch war an Schlaf nicht mehr zu denken. Der Dämon in ihr war aus seinem Gefängnis entkommen und schlug nun erbittert zurück. Mit seinem vergifteten Dolch verwüstete er ungehindert das Gerüst aus Hoffnung und Verdrängung, das sie in all den Jahren so mühsam errichtet hatte. Der Dämon legte das Fundament frei, auf dem die Illusion ihrer heilen Welt gebaut war. Es bestand aus tiefer, verzweifelter Angst.
Freitag, 15. Oktober, 09.50 Uhr
Sabine lenkte den Wagen auf den großräumigen Kaufland-Parkplatz. Ganz in der Nähe des Ein- und Ausgangs fand sie eine Parklücke und setzte den BMW rückwärts hinein. Sie schaltete den Motor aus und spähte durch den Nieselregen zum hell erleuchteten Supermarkt.
Als folge sie einer plötzlichen Eingebung, begann Sabine dann, eilig in ihrer Tasche zu wühlen. Sie zog ihr Handy hervor und wählte Lauras Nummer. Es war die Zeit der großen Schulpause. Nach dem dritten Freizeichen begannen Sabines Hände, feucht zu werden. Warum hob Laura nicht ab? Als die helle Stimme ihrer Tochter schließlich durch den Lautsprecher klang, erschrak Sabine beinahe.
„Laura, Liebes, ist alles in Ordnung?“
„Ja, natürlich, Mama, warum rufst du an?“
„Ich … nichts weiter, hast du dein Pausenbrot?“
Als sie kurz später wieder aufgelegt hatte, atmete Sabine tief durch. Es kam in den letzten Tagen häufig vor, dass eine plötzliche Sorge sie dazu trieb, Lauras Nummer zu wählen. Ihre Tochter war jedes Mal überrascht, und Sabine fürchtete, dass ihr Nachspionieren Laura lästig werden könnte. Doch Sabine konnte sich nicht dagegen wehren.
Am Vortag erst hatte sie unter einem Vorwand bei Nicoles Eltern angerufen, als Laura dort zum Spielen gewesen war, nur um ihre Stimme im Hintergrund zu hören und zu wissen, dass alles gut war. Aber jedes einzelne Mal, wenn sie wieder aufgelegt hatte, fühlte sie, dass nichts gut war.
Sabine besann sich auf ihr Vorhaben und nahm den Eingang des Supermarkts wieder in den Blick. Das Wetter kam ihr gelegen, denn die meisten Leute hatten ihre Schirme und Kapuzen zum Schutz
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