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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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tief in die Gesichter gezogen. Die anderen hasteten über den Platz, die Köpfe und Blicke gesenkt. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihr. Die Uhr zeigte acht Minuten vor zehn.
    Die Klavierstunden für heute hatte sie kurzfristig abgesagt, und Laura würde bis 13.30 Uhr in der Schule sein. So blieben ihr mehr als drei Stunden Zeit, ihr Vorhaben auszuführen. Instinktiv vertraute sie darauf, dass der Mann regelmäßigen Gewohnheiten nachging. Trotzdem hatte das Unterfangen nur äußerst geringe Aussichten auf Erfolg, dessen war sie sich bewusst. Auch gestern war ihr Warten vergeblich geblieben. Alles, was sie tun konnte, war abzuwarten.
    Sabines Gedanken kehrten wieder zu dem Vorfall zurück. Ihr wohlgeordnetes Leben, zusammengestürzt wie ein Kartenhaus. Wie oft hatte sie sich selbst dazu beglückwünscht, dass sie ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und ein neues glückliches Leben begonnen hatte. Wie oft hatte sie sich eingeredet, dass alles so bleiben würde, solange sie nur stark war und der Vergangenheit keinen Raum gewährte. Der Anblick Lüschers und vor allem der Blick in die panisch aufgerissenen Augen ihrer Tochter hatten ihr unwiderruflich klargemacht, dass nichts vorbei war.
    Ein drei viertel Stunden lang saß Sabine nur da und beobachtete das Kommen und Gehen, ohne dass etwas geschah. Ihre Augen wurden durch das angestrengte Blinzeln bereits müde, sie brannten und schmerzten. Sie dachte daran, aufzugeben, als ihre Mühen plötzlich belohnt wurden.
    Der dunkelgrüne Ford Sierra Kombi rollte um 12.02 Uhr auf das Kaufland-Gelände und steuerte auf einen Parkplatz zu, der rund 20 Meter von Sabines Position entfernt lag. Den Fahrer erkannte sie erst, als er sich dem Eingang näherte und einen der Einkaufswagen aus der Schlange löste. Ein kurzes Stöhnen entwich ihrer Kehle, Ausdruck völliger Überraschung angesichts des Erfolges, den sie erhofft, aber nicht erwartet hatte. Ihre Finger klammerten sich um das Lenkrad, während ihr Blick den Mann mit dem dunklen Mantel fixierte wie ein Adler seine ahnungslose Beute. Dann verschwand Herbert Lüscher hinter den Glasschiebetüren des Eingangs.
    Sabine stellte fest, dass sich an ihrer Reaktion etwas verändert hatte. Keine Panik, keine lähmende Angst überkam sie. Stattdessen fühlte sie Wut in sich aufkeimen. Eine ungeheure Wut auf den Mann, der sie einfach genommen und so lange missbraucht und gedemütigt hatte, bis sie sich selbst nur noch als wertlosen Abfall betrachten konnte. Er hatte ihr Leben zerstört. Aber das war noch nicht alles. Seit er zurückgekommen war, hatte er auch die Macht, das unbeschwerte Leben ihrer kleinen Tochter zu zerstören. Keine Flucht, kein Umzug, auch keine noch so große Vorsicht ihrerseits konnte daran etwas ändern. Laura war überall in Gefahr. Überall gab es Männer, die sie benutzen, demütigen und quälen konnten. Mit allen Mitteln würde sie dafür sorgen, dass Laura wieder in Sicherheit aufwachsen könnte. Ihr eigenes Leben war zerstört worden, aber Lauras würde der Kerl niemals bekommen.
    Es war 12.29 Uhr, als Herbert Lüscher den Supermarkt wieder verließ. Sabine sah zu, wie er die Einkäufe in den Kofferraum des Kombis lud. Kurz darauf setzte sich der Ford langsam in Bewegung. Sie hielt den Atem an, als er auf sie zusteuerte und dicht an ihrem eigenen Wagen vorbeifuhr. Sie riskierte einen flüchtigen Blick. So nah war sie ihm seit 20 Jahren nicht mehr gewesen. In ihrem Kopf explodierte ein stummer Schrei, und sie nahm den widerlichen Geruch des Whiskeyatems wahr. Es war eine Einbildung. Natürlich. Sabine packte ein kaltes Schaudern.
    Sie wischte die Gedanken beiseite, startete den Motor und folgte dem grünen Kombi in einigem Abstand.
    Der Verkehr erschien ihr dicht genug, um nicht aufzufallen. Dennoch achtete Sabine darauf, mindestens ein Fahrzeug zwischen dem Ford und ihrem eigenen Wagen zu lassen. Als Lüschers Auto eine gelbe Ampel überfuhr, musste sie Gas geben, um den Kontakt nicht zu verlieren.
    Nach nur sieben Minuten Fahrt war Herbert Lüscher offensichtlich am Ziel. Er bog rechts von der Straße ab und steuerte auf einen Garagenhof zu, der zu einer wenig ansehnlichen Hochhaussiedlung gehörte. Um nicht aufzufallen, fuhr Sabine weiter geradeaus und hielt etwa 100 Meter entfernt in einer Lücke am Fahrbahnrand. Im rechten Außenspiegel konnte sie erkennen, wie der mit zwei vollen Tüten beladene Mann schwerfällig um die Ecke bog. Er trottete über die Straße und verschwand in einem der

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