Die Eisbärin (German Edition)
allein auf dem Spielplatz. Dann kam … ein Mann. Mit einem Mantel. Dann hat er … den Mantel aufgemacht. Er war fast nackt.“ Laura wurde nun von heftigem Beben erfasst. „Sein … Ding. Das stand ganz komisch ab. Er hat gesagt, wir sollen das … anfassen. Dann sind wir losgerannt. Ich hab solche Angst!“
Laura vergrub ihr Gesicht in den Pullover ihrer Mutter und weinte hemmungslos. Sabine nahm ihren Kopf und streichelte ihn mechanisch. Sie winkte Nicole zu sich, die völlig apathisch in einer Ecke des Gartens stand, und nahm auch sie in den Arm. Dann hob Sabine den Kopf, blickte in den Herbsthimmel und stellte fest, dass sie sich selbst nicht mehr spürte. Kein Gedanke, kein Gefühl, nichts als völlige Leere.
Sie registrierte, wie Laura und Nicole in ihren Armen langsam ruhiger wurden, während ihre eigenen Gedanken plötzlich begannen, wild durch ihren Kopf zu jagen. Ihr Geist schien von einem heftigen Wind erfasst zu werden, der alles fortfegte, was sie zu ihrem Schutz so mühsam geordnet hatte. Wenn Laura etwas zustieß, würde Sabines fragiles Leben in sich zusammenfallen. Dann war alles umsonst gewesen. Sabine fühlte sich wieder nackt, ausgeliefert, allein – wie früher. Sie begann, panisch zu zittern. Aber die Kinder, schoss es ihr durch den Kopf, Sabine musste die Kinder trösten, durfte jetzt nicht schwach werden. Sie versuchte, sich den kleinen Vogel vorzustellen, der auf einen Baum flog und der ihr schon so oft geholfen hatte. Der weit oben in einer Baumkrone in Sicherheit war. Das alles ist nicht passiert.
Aber es wollte sich keine Ruhe einstellen. Sabine verstand, dass sie selbst in Gedanken vielleicht noch einmal entfliehen könnte. Aber Laura würde sie dabei schutzlos am Boden zurücklassen.
„Was ist los?“, rief Markus, der inzwischen aus seinem Arbeitszimmer herbeigeeilt war.
„Ich will sofort wissen, was hier los ist!“, schrie Markus noch einmal und schüttelte seine Frau an der Schulter.
Sabine fuhr ruckartig hoch.
„Die Welt ist ein beschissener Ort, Markus. Das ist los.“
Der eisige Ausdruck ihrer Stimme ließ Markus erschaudern. Ein Blick in Lauras vor Schreck noch immer weit aufgerissene Augen genügte, um zu verstehen. Im Moment des Begreifens erfasste ihn maßloses Entsetzen.
„Wer und wo?“, fragte er nun ebenso kalt.
„Spielplatz. Langer Mantel“, flüsterte Sabine, den Blick noch immer auf die lose vorbeiziehenden Wolken geheftet.
Sie hatte sich getäuscht. Es würde niemals vorbei sein.
Markus warf einen letzten Blick auf seine kleine Familie und sprintete los. Im Sprung nahm er das Gartentor und lief Richtung Wald. Er schien nicht zu bemerken, dass Branca es ihm gleichtat.
Als Markus außer Sicht war, spürte Sabine, wie die langsam abschwellende Panik einen einzigen Gedanken freigab. In Sabines Herzen wurde er zu einem Schwur.
Laura wird nicht dasselbe passieren wie mir. Laura ist nicht allein, wie ich es damals war. Sie hat mich. Ich werde sie nicht im Stich lassen.
***
Keuchend erreichte Markus den Spielplatz am Rande des Schellenberger Waldes. Er hatte die eineinhalb Kilometer in fünf Minuten zurückgelegt. Der Hass hatte seine Leistungsfähigkeit gesteigert, doch als er nun den Spielplatz und das angrenzende Gelände menschenleer vorfand, forderte der Sprint seinen Tribut. Von Schwindel ergriffen, schleppte er sich auf wackligen Beinen zur nächstgelegenen Bank und sank völlig erschöpft zusammen. Er dachte an den Mann, der vor wenigen Minuten hier gewesen war und seiner Tochter solche Angst eingejagt hatte. Wie hätte er reagiert, wenn er den Unbekannten noch angetroffen hätte? Er wusste es nicht.
Aufgewühlt betrachtete er Branca, die im Zickzack über den Sand lief, die Schnauze dicht über dem Boden, und aufgeregt mit der Rute wedelte. Natürlich riechst du, dass Laura hier gewesen ist, dachte er. Es wäre ein Leichtes für dich, die Spur des Mannes aufzunehmen, wenn ich dir nur sagen könnte, welcher der vielen Gerüche, die du witterst, der richtige ist.
Niedergeschlagen machte sich Markus auf den Heimweg. Laura leiden zu sehen, war mehr, als er ertragen konnte.
Samstag, 09. Oktober, 19.30 Uhr
Herbert Lüscher drehte den Wasserhahn zu und stieg aus der Dusche. Nachdem er sich abgetrocknet hatte und die dicken Schwaden warmer Feuchtigkeit abgezogen waren, verweilte sein Blick im großen Badezimmerspiegel. Er inspizierte die wenigen Haare auf seinem Kopf, die ihm geblieben waren und nun in feuchten Strähnen herabhingen. Dass er
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