Die Eisbärin (German Edition)
wenig Personal. Der eigentliche Unterricht findet unten in der Schule statt. Es gehen etwa 420 Schüler auf das Gymnasium, von denen aber nur 80 gleichzeitig auch das Internat besuchen, zurzeit 58 Jungen und 22 Mädchen. Meist sind es Eltern, denen eine fundierte Ausbildung und Erziehung ihrer Kinder am Herzen liegt. Oft erfahren diese Eltern eine starke berufliche Belastung und sind froh, dass es Einrichtungen wie die unsere gibt, in denen sie ihren Nachwuchs gut aufgehoben wissen. Ihnen muss ich ja wohl kaum erzählen, was passiert, wenn Jugendliche zu viel Zeit und Freiheiten haben.“
„Nein“, sagte Klein kurz. „Wie sieht ein normaler Tagesablauf aus?“
„Nun, Weckzeit ist jeden Morgen um 05.30 Uhr. Die Schüler haben eine halbe Stunde für die Morgentoilette. Zwischen 06.00 Uhr und 06.45 Uhr gibt es Frühstück in unserem Speisesaal. Anschließend beginnt um 07.00 Uhr der gemeinsame Unterricht im Gymnasium, der in der Regel gegen 14.00 Uhr beendet ist. Unsere Schüler haben dann Zeit, das Mittagessen einzunehmen und einen Großteil ihrer Hausaufgaben zu erledigen. Zwischen 16.00 Uhr und 18.00 Uhr bieten wir verbindliche Unterrichtseinheiten an, in denen der Stoff des Tages noch einmal aufgearbeitet und Hilfestellung bei Hausaufgaben geleistet wird. Zwischen 18.00 Uhr und 18.45 Uhr wird das gemeinsame Abendessen eingenommen. Anschließend ist Freizeit, die mit Lesen, Musizieren, Sport oder geregeltem Fernsehkonsum verbracht werden kann. Für die Klassen fünf bis acht ist Zimmerzeit um 20.00 Uhr, für die Klassen neun bis dreizehn um 21.30 Uhr. Nach 22.00 Uhr ist Bettruhe.“
„Wie steht es mit den Wochenenden?“, fragte Klein.
„Jedes dritte Wochenende dürfen unsere Schüler nach Hause fahren. Diese Möglichkeit wird aber, anders als man vermuten sollte, längst nicht von jedem genutzt. Wir werten das stets als gutes Zeichen.“
Der Direktor lächelte schief, Klein hingegen konnte sich eines plötzlichen Fröstelns nicht erwehren.
„Anders ist es in den Ferien“, fuhr Dambeck fort, „hier müssen alle Schüler nach Hause.“
„Sind die Lehrer an den Wochenenden hier?“, fragte Klein.
„Nun, es ist folgendermaßen. An den Arbeitswochenenden finden nur vormittags Unterrichtseinheiten statt. Die Klassen werden dann zusammengefasst, so dass vier Lehrer ausreichend sind. Zusätzlich stehen zwei der Erzieher zur Verfügung, die sich um Probleme kümmern und die Freizeitangebote gestalten. Über Nacht ist sichergestellt, dass mindestens vier Mentoren im Internat sind. Jeder von ihnen hat hier ein eigenes Zimmer. Zu Vorfällen, die ein Einschreiten erfordern, kommt es glücklicherweise aber so gut wie nie.“
Direktor Dambeck machte eine größere Pause. Es war offensichtlich, dass er den Bericht über sein Internat als abgeschlossen betrachtete.
Günther Klein fiel keine Frage mehr ein. Er warf zuerst einen Blick auf seine Uhr, dann auf Jennifer Bergmann. Sie bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, dass auch sie keine Fragen mehr hatte.
„Danke, Herr Direktor“, sagte Klein. „Das sollte fürs Erste genügen.“
Sie standen auf und gaben einander die Hand. Im Hinausgehen kam den Ermittlern Frau Spieker entgegen. Klein nahm der verdutzten Sekretärin die Tasse vom Tablett, trank schlürfend einen Schluck und stellte den Kaffee zurück.
„Sind das die Unterlagen?“, fragte er und deutete auf einen braunen Umschlag auf dem Empfangstresen. Doch die Sekretärin schien wie versteinert.
„Haben Sie vielen Dank“, sagte Klein so freundlich, wie er konnte, nahm den Umschlag und zog Jennifer Bergmann mit nach draußen.
Draußen angekommen, zischte sie ihrem Kollegen zu: „Was sollte das denn?“, und fischte nach einer Zigarette.
„Die alte Hexe hat doch angefangen“, gab Klein zurück und trottete zu einer der Bänke innerhalb des parkähnlichen Schlossgartens.
Sie öffneten den Umschlag und stellten fest, dass die spröde Sekretärin ihre Arbeit verstand. Neben den zahlreichen Namen waren Beschäftigungszeitraum und Wohnanschrift angegeben. Für zwei Namen noch aktiver Lehrer waren sogar die Dienstpläne der kommenden Tage notiert. Einer von ihnen würde an diesem Nachmittag Unterricht geben.
„Also los“, sagte Jennifer Bergmann im Aufstehen. „Gehen wir noch einmal zurück in die Schule. Diese Lehrer sind das Einzige, was wir im Moment haben. Aber vorher holen wir uns etwas zu essen.“
Günther Klein verweilte noch einen Moment und befühlte sein Knie. Durch die anstrengende
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