Die Eisbärin (German Edition)
und davongefahren, nur um Minuten später dem Feierabendverkehr des Freitagnachmittags zum Opfer zu fallen. Über zwei Stunden quälten sie sich nun schon über die verstopften Autobahnen. Auf der A57 ging es nur noch im Schneckentempo voran. In Höhe des Kreuzes Moers war die Fahrbahn auf einen Fahrstreifen verengt, und das Reißverschlussverfahren schien sämtliche Verkehrsteilnehmer maßlos zu überfordern. Sie würden es nicht schaffen, rechtzeitig zur Besprechung zurück zu sein, die Klein auf 18.30 Uhr angesetzt hatte. Er rief seine Kollegen an und verschob die Besprechung auf 19.15 Uhr. Der erste Arbeitstag im neuen Fall drohte weit über die Zwölf-Stunden-Grenze hinauszugehen – eine erste Belastungsprobe für das Team. Der Ermittlungsleiter hätte gut damit leben können, wenn er nur selbst nicht mit solch leeren Händen zurückgekehrt wäre.
Er schaltete das Autoradio ein, schloss die Augen, lehnte sich zurück und lauschte der Anfangsmelodie von Led Zeppelins Stairway To Heaven . 480 Sekunden Entspannung in a-Moll, die ihm die Gelassenheit zurückgaben, die er als Leiter einer Ermittlung dringend brauchte und die ihm immer öfter abhandenzukommen schien.
Freitag, 19. November, 18.30 Uhr
Sabine saß am Klavier und spielte das Adagio cantabile, den zweiten Satz aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nummer acht, der berühmten Pathétique. Noten brauchte sie nicht, es war eines ihrer Lieblingsstücke, das sie seit langem aus dem Gedächtnis spielte. Die sanfte Melodie konnte sie aber nicht wie sonst ganz in ihren Bann ziehen. Immer wieder drehte Sabine ihren Kopf ein Stück zur Seite und warf einen Blick auf den Fernseher, der im Hintergrund mit abgeschaltetem Ton lief und die einzige Lichtquelle im Raum darstellte. Der WDR brachte gerade einen längeren Bericht über die wütenden Bürgerproteste gegen den Zuzug Jürgen Kohlmeyers. Der Kamerawinkel war so gewählt, dass neben der Reporterin das Haus von Karsten Kohlmeyer, in dem der berüchtigte Bruder derzeit lebte, zu erkennen war. Oben rechts im Bild hatten die Redakteure ein Porträtfoto des entlassenen Sexualstraftäters eingeblendet.
Sabine kannte das Foto. Sie hatte es bereits an die einhundert Mal betrachtet und sich jede anatomische Besonderheit, jedes noch so kleine Detail eingeprägt. Sie schloss die Augen und spielte blind weiter, doch das unscheinbare Gesicht blieb präsent. Sie sah das schüttere blonde Haar und die lange, schmale Nase, die in einen dünnen Oberlippenbart mündete. Da waren die Augen. Blassgraue, eng zusammenliegende Augen, die in einem sonderbaren Kontrast zu dem breiten Gesicht standen. Die narbige Wangenhaut verriet ein zurückliegendes Akneproblem. Die untere Gesichtspartie mit Mund und Kinn war wenig dominant und trug eher jungenhafte Züge. Insgesamt ein durchschnittliches Gesicht, weder attraktiv noch hässlich. Ein harmloses Antlitz und eine trügerische Fassade zugleich. Es war das Gesicht eines Kinderschänders, oder, um es mit den Worten der Boulevardpresse zu sagen, das Gesicht eines Monstrums.
Sabine setzte gerade zum Schlussteil des Adagios an, als sie plötzlich eine kalte Berührung an ihrer Schulter spürte. Sie zuckte zusammen, ihr Herz drohte auszusetzen. Nach einem winzigen Augenblick reflexartiger Angststarre wirbelte sie herum und versuchte, die dunkle Gestalt mit wilden Schlägen abzuwehren.
„Sabine!“, schrie ihr Mann. Während er einen Schritt zurückwich, stolperte er über die Teppichkante und schlug hart auf dem Rücken auf. Aus der Bodenperspektive hatte seine tobende, Schatten werfende Ehefrau wahrhaft etwas Bedrohliches.
„Mein Gott, Sabine! Ich bins doch nur! Was ist denn los?“, rief er vom Boden aus, wo der Schatten seiner tobenden Frau über ihn fiel. Beim Klang der vertrauten Stimme löste sich Sabines Schrecken langsam, und sie begann, sich zu besinnen.
„Liebling, entschuldige bitte. Ich habe nur gerade … ich war dabei …“, stotterte sie und blickte verlegen zur Seite.
„Jetzt beruhige dich erst mal. Du siehst aus, als hättest du den Teufel gesehen.“
Markus richtete sich auf und betätigte den Lichtschalter.
„Ja, ich habe wirklich … ich meine, ich habe dich einfach nicht erwartet. Die Musik … ich habe die Zeit vergessen.“
„Schon gut“, sagte Markus, „ich hätte mich nicht so anschleichen dürfen. Du hast nur so schön gespielt.“
„Danke“, sagte sie milde und blickte zum Fernseher. Der Beitrag über Kohlmeyer war beendet, und es lief der
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