Die Eisbärin (German Edition)
seinen Models. Er hatte genug von den Geschichten und den Bildern in seinem Kopf, genug von den widerwärtigen Andeutungen.
„Ich werde das jetzt vergessen“, sagte er völlig ruhig. „Ein zweites Mal sicher nicht. Wir möchten eine Speichelprobe von Ihnen nehmen, sind Sie damit einverstanden?“
Janina sprang von ihrem Stuhl auf und bedachte Klein mit einem wütenden Funkeln. Die zornige Röte in ihrem Gesicht leuchtete durch die dünne Schicht ihrer Schminke. Plötzlich hatte sie etwas Wildes, Unberechenbares. Sie gab sich keine Mühe mehr, ihre Wut zu verbergen.
„Wenn Sie an mir rumfummeln wollen“, zischte sie, „und es ist mir völlig egal, mit was oder wo, dann bezahlen Sie gefälligst dafür. Schaffen Sie mir ein Telefon her. Ich will mit einem Anwalt reden.“
Eine halbe Stunde später saß Klein wieder an seinem Schreibtisch. Er fühlte sich leer und ausgebrannt, sein Kopf dröhnte, und seine Muskulatur war verspannt und schmerzte. Er blickte von den Vernehmungsprotokollen auf und schaute auf die Uhr, es war 22.15 Uhr. Laschinsky und Klee waren mit Janina auf dem Weg in ihre Düsseldorfer Wohnung. Die Vernehmung von Karim hatte nichts Neues ergeben. Seine Angaben deckten sich mit denen von Janina bis ins Detail. Entweder sagten beide also die Wahrheit, oder sie hatten sich perfekt abgesprochen, was Klein jedoch bezweifelte. Mit Karims Intelligenz schien es nicht weit her zu sein. Klein war überzeugt, dass der Fahrer mit einer konstruierten Geschichte nicht durchgekommen wäre. Die Ermittlungen mussten sich auf die Frau konzentrieren, von der sie nur eine Allerweltsbeschreibung hatten und nicht mehr wussten, als dass sie einen Wintermantel mit Fuchshaar besaß.
Klein wollte sich gerade noch einmal in die Unterlagen vertiefen, als ihm der Duft von frischem Kaffee in die Nase strömte. Bergmann stellte eine Tasse vor ihn auf den Schreibtisch und gönnte sich selbst eine Zigarette.
„Du warst gut heute“, sagte sie. „Richtig gut.“
„Danke. Janina war es aber auch, oder?“
„Ja, das war sie. Ich frage mich, wieso sie in solchen Kreisen verkehrt. Sie scheint doch klug zu sein, und Bildung hat sie auch.“
„Du hast es gehört. Der Traum vom Reichtum ist wie ein großer, dunkler Magnet für anfällige Menschenseelen.“
„Gut, dass wir nie in diese Gefahr kommen können, was?“, antwortete Bergmann. „Ich bin schon zufrieden, wenn ich Überstunden machen und dabei ein paar trockene Kekse knabbern darf. Da fällt mir ein: Hast du die Keksdose gesehen?“
Dienstag, 23. November, 16.40 Uhr
Er schlich durch die Dunkelheit und fühlte sich wie ein Geist. Seit Wochen mied Jürgen Kohlmeyer das Tageslicht. Er wollte sich unsichtbar machen, für die anderen und auch für sich selbst. Doch es konnte nicht gelingen. Die dicken Gefängnismauern hatten ihn nicht beschützen können, und die Heile-Welt-Idylle dieses Hauses vermochte es ebenso wenig. Er konnte seinem Leben nicht entfliehen. Er musste den Mut aufbringen, vor all diese Menschen zu treten und ihrem abgrundtiefen Hass standzuhalten. Er hatte die furchtbaren Dinge getan, für die sie ihn verachteten, und er musste für immer damit leben. Den größten Teil seines Lebens hatte er dafür im Gefängnis verbracht, aber das war nicht das Schlimmste. Schlimmer war, dass sie jede Nacht zu ihm kamen. Seine beiden Töchter, die er gequält und missbraucht hatte. Jede Nacht blickte er in ihre stummen, anklagenden Gesichter. Sie waren überall, saßen auf der Bettkante, auf einem Stuhl in der Ecke oder standen draußen und schauten durch das Fenster. Zuerst war er wütend gewesen, hatte sie angeschrien, sie sollten verschwinden, doch es half nichts. Wochen später flehte er sie an zu gehen, doch sie blieben. Dann fing er an, mit ihnen zu reden, aber sie hörten nur zu, sprachen selbst kein einziges Wort. Er wusste nicht, ob sie ihn verstanden, also erzählte er ihnen jede Nacht das Gleiche, seit mehr als 29 Jahren.
Jürgen Kohlmeyer dachte an das Gespräch mit Lothar Nienhaus. Der Anwalt hatte am Mittag bei ihm angerufen und sich nach seinem Befinden erkundigt. Kohlmeyer war das Gefühl völlig fremd, dass es einen Menschen gab, der sich für ihn interessierte, der sich ein Stück weit um ihn sorgte. Selbst sein Bruder, der ihn immerhin aufgenommen hatte, mied ihn, wo es nur ging. Bisher hatte er immer nur erfahren, dass er wertloser Dreck auf der Müllhalde der Gesellschaft war. Selbst im Gefängnis war er ein Geächteter gewesen, und niemand
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