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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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immer fast jede Nacht über sie beugte, geifernd und schwitzend. Er konnte ihr nie wieder schaden, dafür hatte sie gesorgt. Doch Sabine fühlte sich nicht frei, spürte keine Genugtuung. An deren Stelle war vielmehr eine bodenlose Leere getreten, die Sabine neben den unruhigen Nächten für die Kraftlosigkeit ihrer Tage verantwortlich machte. Warum ließen sie die Träume noch immer nicht los? Und warum konnte sie nicht anders, als jeden Bericht über Jürgen Kohlmeyers Freilassung aufzusaugen wie ein Schwamm, während sie zugleich spürte, wie die Informationen sie mehr und mehr vergifteten?
    Kaum vier Kilometer von ihr entfernt lag das Monster wieder in seinem eigenen Bett ‒ friedlich schlafend, während seine Opfer, während sie selbst, vor Todesangst kein Auge zutun konnten. Der Mann, der wie aus Häme den Platz in ihrem Kopf eingenommen hatte, nachdem sie Lüscher gewaltsam von dort vertrieben hatte, war näher als jemals zuvor. Dass die Gefahr direkt vor ihrer Haustür lauerte, schnürte ihr die Kehle zu. Jeden Tag trat Laura aus dieser Tür, jeden Tag lief sie die Straßen entlang, die Sabine mit ihrer Tat für sie beide und viele andere hatte sicher machen wollen. Und nun? Kohlmeyer war ihr so nah, dass er sogar dieselbe Luft atmete wie sie. Sabine spürte Wut in sich aufsteigen, eine archaische, verzweifelte, brennende Wut, die alle ihre Kräfte an sich zog, bündelte und sie innerlich zum Beben brachte.
    Sie wandte ihren Blick vom Fernseher ab, ging zum Kleiderschrank, öffnete eine der unteren Schubladen und kramte die große Plastiktüte hervor, die sie unter einer Wolldecke versteckt hielt. Sie trat ans Bett und verteilte den Inhalt über die Decke. Obwohl sie wusste, dass es nicht nötig war, kontrollierte sie alles erneut. Schlüpfer, Socken, BH, T-Shirt, Pullover, Jeans, Mütze, Schal, Handschuhe, Jacke und Turnschuhe. Alles war da, und alles war schwarz. Es handelte sich um billige Kleidung, Sachen, die sie in unterschiedlichen Läden gekauft hatte und nur ein einziges Mal in ihrem Leben tragen würde. Dieser Tag war heute, daran gab es nun keinen Zweifel mehr.
    Sabine zog sich an und stellte sich erneut vor den großen Spiegel. Nichts erinnerte mehr an das schwache Wesen von eben. Ihre Verwandlung war perfekt und bestätigte Sabine in ihrer Entschlossenheit. Sie zog eine weitere Schublade auf und holte Messer und Elektroschocker unter einem Stapel alter Blusen hervor. Sie öffnete das Fach am unteren Ende des Gerätes und legte eine neue Batterie ein. Dann nahm sie beide Waffen abwechselnd in ihre Hand. Der Schocker fühlte sich seltsam fremd an, schwer, wie ein Widerstand. Das Messer hingegen lag satt und glänzend in ihrer Hand. Es fühlte sich an wie eine natürliche Verlängerung ihres Arms, bereit für seine tödliche Mission. Sabine sah auf die Anzeige des Radioweckers. 01.15 Uhr. Es war an der Zeit, zu handeln. Sie musste den nächsten Schritt machen auf dem Weg, der zur Befreiung führte. Der Weg, an dessen Ende die Erlösung für sie und ihre Familie wartete.
    Er barg viele Gefahren in sich, das wusste sie. Doch Sabine fühlte die Erhabenheit ihrer Kraft, die um vieles mächtiger schien, als es ihre eigene allein sein konnte. Sie stellte sich vor, dass ihr die Kraft von allen geschändeten und schutzlosen Opfern zufloss, in deren Namen sie den Kampf nun erneut aufnehmen musste. Sie fühlte im Namen ihrer ahnungslosen Laura, die durch Sabines Einsatz unversehrt bleiben würde, eine unermessliche Erleichterung, die sie beflügelte. Ja, sie war eine Auserwählte, und als solche würde sie ihren Weg bis zum Ende gehen.
    Sabine raffte die restliche Kleidung zusammen und legte sie auf die Ablage im Flur. Sie schaltete ihr Handy auf stumm und legte es zurück in die Schublade. Dann horchte sie in die Stille ihres Hauses. Nichts. Lautlos schlich sie die Treppe hinauf, den Flur entlang, bis vor das Schlafzimmer ihrer Tochter. Die Tür war nur angelehnt, so wie Laura es gern hatte. Sabine hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit. Sie hörte die regelmäßigen Atemzüge ihres Kindes. Leise schob sie die Tür auf und trat an das Bett. Sabine stand reglos, hielt den Kopf leicht schief. Die Friedlichkeit und die zärtliche Unschuld auf dem Gesicht ihrer Tochter brachen ihr beinahe das Herz. Tränen entwichen ihrem Auge, krochen über die Wange und fielen lautlos zu Boden. Sabine beugte sich hinunter und berührte das Haar des schlafenden Kindes. Hell und weich und duftend floss es durch ihre

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