Die Eisbärin (German Edition)
seiner Mithäftlinge wollte mit ihm auf einer Stufe stehen. Schon sein Vater hatte Jürgen als Kind beigebracht, dass er ein fauler Bastard, ein nichtsnutziger, undankbarer Schwachkopf war. Tausende von Gürtelhieben und unzählige Prellungen und Knochenbrüche waren eine ausreichende Lektion gewesen. Seine Mutter hatte ihren Kummer im Alkohol ertränkt und starb, als sie eines Tages in der Badewanne ausrutschte und mit dem Kopf auf den Wannenrand schlug. Sein Vater holte ihn damals ins Badezimmer, deutete auf den verdrehten Hals und sagte, das passiere ihm auch, wenn er nicht lerne, was Gehorsam und Disziplin bedeuteten. Zu diesem Zeitpunkt war Jürgen 10 Jahre alt. In der Zeitung stand, es sei ein tragischer Unfall gewesen, doch er wusste es besser. Er hatte die Wahrheit in den Augen seines Vaters gesehen.
Kohlmeyer schüttelte die Gedanken ab. Es war an der Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. In dem Telefonat mit Nienhaus hatte er bei sich selbst ein weiteres neuartiges Gefühl bemerkt. Er hatte es in dem Moment gespürt, als er seinem Anwalt von dem Job erzählte, den er am nächsten Morgen antreten würde. Er hatte eine Anstellung in einer Schlosserei, zunächst auf Probe, aber immerhin gab es eine Perspektive. Kohlmeyer vermutete, dass es Stolz war, was er fühlte.
Er ging zum Fenster und zog den Rollladen hoch. Es waren nur noch wenige Menschen auf der Straße versammelt. Sie standen im Kreis um eine Kerze und achteten nicht auf das Haus. Er stellte das Fenster auf Kipp und sog die frische Luft in seine Lungen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich lebendig.
Kohlmeyer blickte auf die vorbeiziehenden Wolken. Die untergehende Sonne strahlte sie an und tauchte den Abendhimmel in ein malerisches Rot. Plötzlich spürte er ein starkes Verlangen. Er stürmte aus dem Zimmer und rannte nach oben in die erste Etage. Dort zog er die Leiter herunter und kletterte auf den Dachboden. Gebückt lief er zu dem Fenster auf der Westseite. Mit der Hand befreite er die Scheibe von ihrer dicken Staubschicht. Dann sah er sie. Als gewaltiger, dunkelroter Feuerball hing die Sonne dicht über dem Horizont. Kohlmeyer glaubte, ihre Wärme auf seinem Gesicht zu spüren. Gebannt folgte er dem unaufhaltsamen Versinken der Sonne, bis der letzte rote Streifen verschwunden war.
Morgen, dachte Kohlmeyer voller Hoffnung, morgen beginnt mein neues Leben.
Dienstag, 23. November, 17.00 Uhr
Günther Klein legte die letzte Seite zu den anderen auf den Stapel. Der Bericht über den Stand der Ermittlungen hatte ihn wertvolle Stunden gekostet, doch Helmut Boger bestand auf einer ausführlichen Niederschrift. Die turbulenten Ereignisse im Zusammenhang mit Martens’ Callgirls hatten neuen Schwung in die Ermittlungen gebracht, aber auch einen Haufen neue Arbeit. Und wieder einmal würden viele der neu aufgeworfenen Spuren im Sand verlaufen, dachte Klein und konnte den Dämpfer, den ihre Motivation bei der in Kürze beginnenden Besprechung erfahren würde, schon förmlich spüren. Er fuhr den Rechner herunter, stand auf und ging in die Küche, wo er Christa Ehlers begegnete. Die rundliche, gutgelaunte Frau arbeitete seit vielen Jahren im Geschäftszimmer und war so etwas wie die gute Seele des Kommissariats. Sie nahm Telefonate entgegen, kümmerte sich um ein- und ausgehende Korrespondenz, verwaltete die Vorgangsakten und war für alles zuständig, was den Mitarbeitern sonst so auf der Seele lag. Christa hatte immer ein offenes Ohr, wenn es sein musste, auch für die privaten Probleme ihrer meist männlichen Kollegen. Sie besaß die einzigartige Fähigkeit, jedem Einzelnen das Gefühl zu geben, ihr persönlicher Liebling zu sein, ohne je den einen gegen den anderen auszuspielen oder Missgunst zu säen. Sie war das, was private Unternehmen die Mitarbeiterin des Monats nennen würden, und das stolze zwölf Mal im Jahr.
„So spät noch hier?“, fragte Klein verwundert.
„Ich habe gehört, dass ihr euch nachher noch zusammensetzt. Ich mache bloß schnell den Kaffee fertig.“
„Lieb von dir, den können wir gut gebrauchen.“
„Kommt ihr denn voran?“
Klein nickte und nahm einen Apfel aus der Obstschale. „Leider nicht so schnell, wie uns lieb wäre, aber du weißt ja, wie das ist“, sagte er und zwinkerte ihr zu.
Christa lachte auf: „Ja, ich weiß. Früher oder später kriegt ihr sie alle.“
Sie löffelte duftendes Kaffeepulver in den Filter der Kaffeemaschine, schaltete sie an und verabschiedete sich in den
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