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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Tortellini floss. Die
Frau versuchte nicht, das Bluten zu stoppen, sondern sprach einfach
weiter. Sie sagte, sie würde nie mehr ein Lieblingsgericht
haben und sich nie mehr über irgendetwas freuen können.
Nie wieder lachen. Dann nahm sie mit zittrigen Händen den
Teller und ging, ohne sich zu verabschieden. Arnar hatte den
weißen Abdruck am Ringfinger ihrer linken Hand gesehen und
sich leicht vorstellen können, was geschehen war. Die
Patienten, die es in Vogur am schwersten hatten, waren oft junge
Frauen, die die Liebe ihres Mannes und ihrer Kinder verspielt
hatten. Arnar verging der Appetit bei dem Gedanken an die Kinder,
die mit ihrem Vater beim Essen saßen und sich den Kopf
darüber zerbrachen, warum ihre Mama nicht so war wie andere
Mütter. Zum Glück hatte Arnar keine Kinder, die er
hätte enttäuschen können.
    Er wälzte sich auf die
andere Seite und wünschte sich, er hätte einen iPod.
Musik half ihm oft, sich auf etwas anderes als sich selbst zu
konzentrieren. Aber er musste sich damit begnügen, zu
überlegen, welche Songs er hören würde, wenn er
einen iPod hätte. Nachdem er im Geiste eine Liste
zusammengestellt hatte, ließ er die Songs in seinem Kopf
ablaufen. Die Texte stimmten zwar nicht ganz, aber die Melodien
konnte er fast alle auswendig. Als ihm in der Mitte des
fünften Songs klar wurde, dass die Lieder alle ziemlich
depressiv waren, hörte er damit auf. Warum durfte man hier
nicht fernsehen? Das wäre ein gutes Schlafmittel. Sogar der
Schnarcher wäre besser als nichts – Arnar könnte
ihn anschauen und sich vorstellen, eine lange Szene in einer
Doku-Soap zu sehen. Alles besser, als sich den Kopf über den
Grund für seinen Frust zu
zerbrechen.         
    Arnar zog sich die Bettdecke
über die Zehen. Es war kalt im Zimmer. Er hatte das Fenster
offen stehen lassen, damit er am nächsten Tag nicht mit
Kopfschmerzen aufwachte. Grönland kam ihm in den Sinn, kalt
und einsam. Sein Bademantel hing an einem Haken an der Wand. Arnar
überlegte, ihn unter der Bettdecke anzuziehen, damit ihm
wärmer wurde. Aber es war schon grässlich genug, den
ganzen Tag darin herumzulaufen. In Grönland besaß er
eine dicke Daunenbettdecke, die er nach der ersten Schicht gekauft
hatte. Die Bettdecke, die er von Bergtækni bekommen hatte,
war so ähnlich wie die, unter der er jetzt lag – mit
Watte oder irgendeinem Kunststoff gefüllt, der bei jeder
Bewegung knisterte. Arnar hoffte, dass niemand seine
Daunenbettdecke mitgehen lassen würde, bevor er sich seine
privaten Sachen schicken lassen konnte. Ansonsten war in seiner
Wohnung im Camp nicht viel zu holen, bis auf den alten Laptop, mit
dem er häufig Kinofilme angeschaut hatte. Er konnte sich nicht
vorstellen, dass irgendjemand die alte Kiste haben wollte, aber man
konnte nie wissen. Die Dinge, die damals im Camp verschwunden
waren, waren auch nicht außergewöhnlich oder wertvoll
gewesen. Ihm waren beispielsweise Winterstiefel und eine Mütze
abhanden gekommen, für die man bestimmt nicht viel Geld
bekäme. Die Stiefel waren schon ziemlich alt gewesen, und er
hatte sie nur behalten, weil sie angenehm ausgelatscht waren und
man damit gut durchs Camp laufen konnte. Als sie gestohlen wurden,
dachte er zunächst, das sei wieder einmal ein Scherz seiner
Kollegen, und erzählte es erst den anderen, als klar war, dass
das nicht stimmte. Diebe, die ausgelatschte Fellstiefel und eine
uralte Pelzmütze klauen würden, hätten bestimmt auch
den Laptop mitgenommen. Und die Daunenbettdecke. Gut möglich,
dass seine Kollegen die Decke einfach kaputtmachen würden, nur
um ihm eins auszuwischen. Das sähe ihnen
ähnlich.  
    Es war unangenehm, an die Arbeit
zu denken, obwohl er die allerschlimmsten Sachen schon
verdrängt hatte. Bei dem Gedanken an die endlosen
Hänseleien spürte er ein altbekanntes Stechen in der
Brust, einen Schmerz, der genauso weh tat, als wenn man ihn
geschlagen hätte. Der einzige Unterschied war, dass Wunden und
blaue Flecken am Körper längst verschwunden wären.
Arnar konnte weder in der Gruppe noch mit den Psychologen oder
Therapeuten darüber reden. Wahrscheinlich würde ihm das
helfen, aber das Risiko war zu hoch. Er wollte gemocht werden, und
das wäre nicht mehr der Fall, wenn er die ganze Geschichte
erzählte. Sie würden ihn für einen Dreckskerl
halten, der nichts Besseres verdient hatte. Die Angestellten
schauten ihn ohnehin schon schief an; anscheinend hatten sie das
Gefühl, dass er viel mehr als nur ein Suchtproblem hatte.

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