Die eisblaue Spur
Ahnung. Ich war
doch gar nicht dabei.«
Friðrikka ging hinaus,
während Dóra den letzten Schluck Lakritzschnaps trank.
Sie war sich nicht sicher, ob sie noch mehr wollte; der Alkohol
machte sie nur noch müder. Matthias schien es genauso zu
gehen, aber alle anderen waren angeheitert. Sogar Bellas
Schmollmund war verschwunden, obwohl sie für ein echtes
Lächeln noch ein paar Gläser brauchen würde. Weil
sie so müde waren, reagierten Dóra und Matthias
zuletzt, als Friðrikkas Schrei in den Aufenthaltsraum
drang.
17.
Kapitel
21. März 2008
Arnars Hände hatten
aufgehört zu zittern, aber anstatt erleichtert zu sein,
weckten die leblosen Finger Wehmut in ihm. Was an und für sich
nicht weiter schlimm war – er hatte ohnehin nicht die
Hoffung, dass es ihm in absehbarer Zeit bessergehen würde, und
Wehmut war nicht das schlechteste Gefühl. Es ärgerte ihn
nur, dass er nicht wusste, nach was er sich zurücksehnte; er
konnte es einfach nicht in Worte fassen. Obwohl es an Auswahl nicht
mangelte: vergangene Zeiten, verprasstes Geld, verlorene
Freundschaften.
Er war aus einem traumlosen
Schlaf hochgeschreckt und fühlte sich immer noch genauso
erschlagen wie vorher. Vielleicht hatte er nur kurz geschlafen.
Arnar hatte seine Uhr verloren, und da man in der Klinik kein Handy
haben durfte, wusste er nicht, wie spät es war. Draußen
war es stockdunkel, aber das hatte nicht viel zu bedeuten, denn zu
dieser Jahreszeit wurde es erst gegen neun Uhr hell. Natürlich
hätte er rausgehen und die Nachtwache nach der Uhrzeit fragen
können, aber das wollte er nicht; er wusste, dass es ihm dann
noch schwerer fallen würde, wieder einzuschlafen. Vergeblich
versuchte er, an etwas Positives zu denken. Das Einzige, was ihm
durch den Kopf ging, war das leere Bett gegenüber und sein
Zimmernachbar, ein Alkoholiker, der mit Herzrhythmusstörungen
ins Krankenhaus gebracht worden war. Der Mann hatte furchtbar
geschnarcht und im Schlaf geredet. Eigentlich sollte Arnar ohne ihn
besser schlafen können, aber so war es nicht. Es würde
bestimmt nicht lange dauern, bis ein anderer seinen Platz einnahm.
Eigentlich seltsam, dass das nicht direkt am nächsten Tag
passiert war. Arnar vermutete, dass es mit seinen sexuellen
Neigungen zusammenhing, von denen er der Gruppe schon am zweiten
Tag erzählt hatte. Er hatte es hinter sich bringen wollen,
damit die Männer nicht anfingen, ihm Weibergeschichten zu
erzählen, und es hatte sich wie ein Lauffeuer in der
Entzugsklinik verbreitet. Aber das war ihm völlig egal; die
Leute hier hatten nichts gemeinsam, außer ihrer Sucht, und
waren froh, über etwas anderes reden zu können. Nach
seinem Outing genoss er eine gewisse Ruhe, die meisten Männer
wichen ihm aus, während die Frauen, die in der Minderheit
waren, sich mehr für ihn interessierten als vorher. Arnar
glaubte nicht, dass die Männer ihn wegen irgendwelcher
Vorurteile mieden. Sie hatten einfach schon genug Probleme und
wollten ihr Leben nicht noch komplizierter machen, indem sie sich
mit irgendeinem armen Schwein einließen, das sie zu allem
Überfluss auch noch anbaggern könnte. Arnar interessierte
sich für niemanden, weder sexuell noch freundschaftlich. Es
würde lange dauern, bis er wieder Freude an Sex oder
Geselligkeit hätte. Aber das konnten die anderen zum
Glück nicht wissen.
Vielleicht hatte sein ehemaliger
Zimmergenosse, der alte Schnarcher, eine Herzkrankheit simuliert,
um nicht Gefahr zu laufen, dass Arnar ihn im Schlaf vergewaltigte.
Zum ersten Mal seit seiner Einlieferung musste Arnar grinsen. Der
Mann war weit über sechzig gewesen und hatte ein Gebiss
gehabt, das bei jedem Schnarchen Schmatzlaute von sich
gab.
Arnars Grinsen hielt nicht lange
an. Er dachte an die Worte der jungen Frau, mit der er beim
Mittagessen am Tisch gesessen hatte. Sie hatte sich über ihren
Teller gebeugt und völlig verzweifelt gewirkt. Unter normalen
Umständen wäre sie hübsch gewesen, aber nun sah sie
aus wie ein Zombie. Sie hatte Arnar zugenickt, sich neben ihn
gesetzt, aber kein Gespräch angefangen. Nachdem sie eine
Ewigkeit in ihrem Essen herumgestochert hatte, ohne auch nur einen
Bissen zu sich zu nehmen, hatte sie sich zu Arnar gedreht und
gesagt, Pasta sei immer ihr Lieblingsgericht gewesen. Sie sprach
mechanisch, so als lese sie von einem Zettel ab. Als sie den Mund
aufmachte, riss eine Wunde auf ihrer Oberlippe auf. Ein dicker,
dunkelroter Bluttropfen sammelte sich in ihrem Mundwinkel und
tropfte auf den Tellerrand, von wo er in die
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