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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Es
war ein Fehler gewesen, gestern Abend mit dem Mädchen
über moralische Fragen zu diskutieren. Sie hatte dem
Therapeuten bestimmt davon erzählt. Jedenfalls hatte er Arnar
heute wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet und ihn ständig
gefragt, wie er sich fühle.
    Er wollte beispielsweise wissen,
warum Arnar nie Freunde oder Bekannte anrief. Offenbar beobachtete
der Mann ihn genau, denn als Arnar log, er hätte am Morgen ein
paar Telefonate geführt, schüttelte der Therapeut den
Kopf und sagte, das würde nicht stimmen, er habe niemanden
angerufen, seit er hier sei. Arnar wechselte das Thema, weil er
nicht die Wahrheit sagen wollte – dass er niemanden hatte,
den er anrufen konnte. Seine Mutter war tot und der Kontakt zu
seinem Vater so schlecht, dass er endgültig abreißen
würde, wenn er ihn – schon wieder – aus Vogur
anrief. Seine beiden Brüder hatten die Nase voll von ihm, und
dasselbe galt für die wenigen Menschen, die er früher mal
als seine Freunde bezeichnet hatte. Wenn er ein nettes Telefonat
mit jemandem führen wollte, musste er beim Roten Kreuz
anrufen. Aber so tief war er noch nicht gesunken. Morgen würde
er das Geld aus seiner Jackentasche, das er mit den anderen
Wertgegenständen abgegeben hatte, zurückverlangen, damit
bei der Auskunft anrufen und nach ein paar Telefonnummern fragen.
Wenn er Glück hatte, würde er damit durchkommen. Sie
würden glauben, er rufe einen Bekannten an. Vielleicht
würden sie ihn dann wie die anderen Patienten
behandeln.
    Arnar hörte Schritte im
Flur. Das war entweder die Nachtwache beim Kontrollgang oder die
Frühwache. Er wusste nicht, was schlimmer war, eine frühe
Nacht oder der nahende Tag. Arnar konzentrierte sich aufs
Einschlafen. Es machte keinen Sinn, über etwas nachzudenken,
was vorbei war. Es war sinnlos, über eine Zukunft
nachzudenken, die ihm verwehrt war. Der Augenblick war das Einzige,
das er kontrollieren konnte. Arnar schloss wieder die Augen und
begann zu zählen. Aber es half nicht. Eins – ein
verschollener Kollege, zwei – verschollene Kollegen, drei
– Tote. Weiter kam er nicht und fing wieder von vorne an.
Eins – ein verschollener Kollege, zwei – verschollene
Kollegen, drei – Tote. Eins – ein verschollener
Kollege, zwei – verschollene Kollegen, drei – Tote. Er
hätte alles für einen Drink gegeben, obwohl er eigentlich
fest entschlossen war, nicht mehr zu trinken. Diesmal lockte ihn
nicht der Rausch, sondern der traumlose Schlaf, der das Gehirn
ausschaltete. Selbst das schlechte Gewissen hatte keine Chance
gegen den Alkohol. Der siegte immer.
    Friðrikka stieß immer
wieder Schluchzer aus, ihr aufgedunsenes Gesicht glänzte vor
Tränen und Rotz. Dóra gab sich einen Ruck. Sie holte
tief Luft und legte vorsichtig ihre Hand auf Friðrikkas
Schulter. Die Männer, die untätig herumstanden, atmeten
auf. Sie hatten sie alle gleichzeitig angeschaut, in der Erwartung,
dass sie etwas tun würde. Alle schienen davon auszugehen, dass
sie als Geschlechtsgenossin die Sache in die Hand nehmen musste.
»Das wird schon wieder«, war das Einzige, was
Dóra einfiel. »Wir informieren die Polizei. Jetzt
kommen sie bestimmt.«
    »Da ist Rotwein an meinen
Socken.« Die Geologin zog schluchzend ihre fleckigen Socken
aus. »Sieht aus wie Blut.« Friðrikka war nicht die
Einzige, die Rotwein an den Socken hatte. Sie hatte zwei Flaschen
fallen lassen, und die anderen waren durch die Pfütze zu ihr
gerannt.
    » Was hast du denn im
Kühlraum gemacht? Da bewahrt man doch keinen Rotwein
auf!«
    »Was?« Friðrikka
starrte Dóra mit feuchten Augen an, einen Socken in der
Hand. Plötzlich schien sie sich zu besinnen. Sie sprach
langsam, immer wieder von Schluckauf geplagt. »Der Wein wird
im Büro des Kochs gelagert. Da war ich zuerst. Aber ich hab
nur drei Flaschen gefunden und dachte, das würde nicht
reichen. Deshalb wollte ich nachgucken, ob noch Schnaps da
ist.« Dóra sah aus dem Augenwinkel, wie sich Matthias
schüttelte. »Den gab’s letztes Jahr beim
þorrablót, und da dachte ich, dass von diesem Jahr
vielleicht noch was übrig ist. Deshalb bin ich in den
Kühlraum gegangen.« Der Kühlraum war ziemlich
groß. An den Wänden standen Regale, von denen einige
leer und andere mit abgepacktem Fleisch, tiefgefrorenem Brot und
Gemüse in Tüten gefüllt waren. Die schwere
Stahltür vor dem Kühlraum war nur angelehnt, so dass
kalte Luft in die Küche drang. Ein rotes Blinklicht gab zu
erkennen, dass die Tür offen stand.
    »Aber warum hast du

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