Die eisblaue Spur
sie zur Tür und hoffte das Beste. Wenn der Mann
sie angriff, würde sie einfach aus vollem Hals
losbrüllen.
Draußen war es schneidend
kalt, aber zum ersten Mal, seit sie in Grönland war, dachte
sie nicht darüber nach, sondern konzentrierte sich nur auf den
Weg vom Büro- zum Wohntrakt. Der Mann war nirgends zu sehen.
Dóras Herz hämmerte wie wild. Sie hielt Ausschau nach
frischen Spuren, aber auf dem Weg zwischen den Gebäuden war
der Schnee stark zertrampelt. Sie musste einfach losgehen und
hoffen, ihm nicht zu begegnen. Energisch schritt sie aus und
steuerte direkt auf den Eingang zu, anstatt, wie eigentlich
geplant, zur Rückseite des Hauses zu gehen. Der große,
klobige Winteroverall erschwerte das Laufen, und die Hosenbeine
schleiften durch den Schnee. Während sich Dóra auf das
viel zu laute Knistern des Overalls konzentrierte, achtete sie
nicht auf die Spur, die von der Treppe zum Müllcontainer
führte. Als sie an dem großen Stahlkasten vorbeikam,
fuhr sie plötzlich zusammen.
Im Schutz des Containers stand
der Mann. Dóra stockte der Atem.
Er trug eine Felljacke und eine
weiße, zottelige Hose, die aussah wie ein Eisbärenfell.
Die Kleidung des Mannes war so voluminös, dass man
unmöglich feststellen konnte, welche Statur er hatte:
groß und kräftig oder klein und schmächtig. Seine
Augen waren dunkelbraun, fast schwarz. Dennoch wirkte der Mann
nicht feindselig, sein Gesicht war eher traurig. Dóra blieb
wie angewurzelt stehen und versuchte verzweifelt, eine Entscheidung
zu treffen. Ihr ursprünglicher Plan, um Hilfe zu rufen, war
vergessen; das Chaos in ihrem Kopf machte jegliche Vernunft
zunichte. Ihr fiel einfach nichts Besseres ein, als guten Abend zu
wünschen. Als ihr die Worte über die Lippen gekommen
waren, wusste sie schon nicht mehr, in welcher Sprache sie sie
gesagt hatte. Wahrscheinlich auf Isländisch, denn der Mann
starrte sie völlig verständnislos an. Sicherheitshalber
wiederholte sie den Gruß auf
Dänisch.
»Ihr müsst hier
weg.« Der Mann sprach Dänisch, aber sogar Dóra
konnte hören, dass das nicht seine Muttersprache
war.
»Warum?«, fragte
Dóra, obwohl sie nicht mit einer Antwort rechnete. Der Mann
erwartete ja wohl nicht, dass sie einfach ja sagte, ins Haus ging
und ihren Koffer packte.
»Eure Freunde kommen nicht
zurück. Fahrt nach Hause.« An der Stimme des Mannes war
nicht zu erkennen, ob das als Drohung oder als Rat gemeint
war.
» Woher wissen Sie
das?« Plötzlich spürte Dóra die Kälte.
» Was ist mit den Leuten passiert?«
»Sie sind weg.« Der
Mann starrte sie unverwandt an. »Das ist ein schlechter
Ort.«
Vielleicht war das der alte
Jäger, den die Grönländerin erwähnt hatte. Er
war so sonderbar gekleidet, dass man sich gut vorstellen konnte,
dass er außerhalb des Dorfes lebte. Dóra hatte sich
den Namen gemerkt und beschloss, den Mann einfach direkt zu fragen.
» Sind Sie Igimaq?« Der Mann nickte überrascht.
»Ich habe gehört, dass Sie mir etwas über dieses
Gebiet sagen können.«
»Ich habe es schon gesagt.
Das ist ein schlechter Ort. Gehen Sie!« Er fragte nicht, wer
ihr von ihm erzählt hatte. »Sie wissen nichts über
die Verhältnisse hier. Sie sind hier nicht zu Hause. Gehen Sie
und erzählen Sie allen, dass sie sich von hier fernhalten
sollen. Der Ort hier ist böse.«
Das war Dóras Chance.
»Das müssen Sie mir genauer erklären. Vielleicht
gehen wir, wenn wir verstanden haben, warum das so wichtig
ist.«
Der Mann schaute sie zornig an.
»Hier sind Menschen gestorben.«
» Die ersten
Siedler?«
»Die Menschen, die
gestorben sind, haben keine Nachkommen, denn die sind auch
gestorben. Deshalb können ihre Seelen nicht in ihren Kindern
und Enkelkindern wiedergeboren werden. Sie sind immer noch hier.
Sie werden immer hier sein. Das ist kein guter Ort, und wer hierher
kommt, läuft Gefahr, nie mehr
zurückzukehren.«
Dóra fror immer mehr.
Obwohl sie nicht gläubig war und nicht viel von
Übersinnlichem hielt, erschütterte sie der Gedanke an die
ersten Siedler, die noch nicht einmal nach ihrem Tod von Elend und
Kälte erlöst wurden. »Also, dann sind die Seelen
der verhungerten Menschen dafür verantwortlich, dass hier in
dem Gebiet Leute verschwinden?«
»Das Eis bewahrt vieles
und zerstört nichts. Aber am Ende gibt es alles frei, was es
einmal verschlungen hat.« Der Mann zog seinen Fellhandschuh
aus und hielt Dóra seine Hand hin. Der Zeigefinger fehlte.
In seiner Handfläche lag ein kleines, mit
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