Die eisblaue Spur
leichtsinnig sie gewesen war. Vielleicht hatte Oddný
Hildur genau denselben Fehler gemacht und war draußen in der
Kälte einem Mann gefolgt. » Aber es ist nichts passiert.
Der Typ war irgendwie komisch. Es macht wenig Sinn, ihn noch mal
aufzusuchen. Ein Einheimischer muss mit ihm
reden.«
»Bist du verrückt,
einfach rauszurennen, wenn jemand da draußen
rumlungert?«
»Tut mir leid, ich
weiß, dass das dumm war. Aber ich habe mit ihm
geredet.« Dóra hängte den Overall auf. »Er
hat indirekt gesagt, dass die Bohrmänner und die Geologin tot
sind.«
»Indirekt?«, fragte
Finnbogi.
»Er meinte, unsere Freunde
würden nicht mehr zurückkommen.«
»Hat er was damit zu
tun?« Matthias war immer noch wütend wegen Dóras
Leichtsinnigkeit. Finnbogi und er hatten das Flutlicht auch
bemerkt, aber niemanden draußen gesehen. Sie waren gar nicht
auf die Idee gekommen, nachzuschauen. Und Matthias hatte nicht
damit gerechnet, dass Dóra mutiger war als er.
»Keine Ahnung.« Sie
gingen in den Aufenthaltsraum, wo Dóra ihnen von ihrem
Gespräch mit dem Jäger erzählte. Die Männer
wussten nicht, was sie von Igimaqs Worten über die Zeichen
halten sollten. Sie glaubten, er hätte irgendwelche Vorzeichen
gemeint, Naturphänomene oder Vorboten einer unbekannten
Gefahr. Nachdem Dóra die letzten Tropfen Lakritzschnaps
getrunken hatte, ging sie zurück zum Bürogebäude,
diesmal in Begleitung von Matthias.
Als sie das Konferenzzimmer
betraten, tigerte Bella keineswegs voller Sorge durch den Raum,
sondern schnarchte unter ihrer Bettdecke.
20.
Kapitel
22. März 2008
Als Oqqapia in die Küche
kam, war sie bestürzt. Es gab keine sauberen Gläser und
Teller mehr. Der Stapel in der Spüle war so groß
geworden, dass man nicht mehr schnell etwas herausziehen konnte,
ohne Gefahr zu laufen, dass das ganze Geschirr auf den Boden
krachte. In der letzten Zeit hatte sie Gläser und Teller je
nach Bedarf mit einem verschlissenen Küchentuch abgerieben,
was nicht gerade hygienisch war. Aber sie konnte sich einfach nicht
aufraffen, zu spülen. Im Dorf gab es kein fließendes
Wasser, und der Tank hinter dem Haus musste erst aufgefüllt
werden, bevor sie etwas unternehmen konnte. Die
grönländische Selbstverwaltung hatte schon vor langer
Zeit im Dorf nach Wasser bohren lassen, schaffte es aber
anscheinend nicht, Leitungen zu den Häusern zu legen. Deshalb
mussten die Leute Wasser aus einem kleinen Pumphaus holen und in
ihre Tanks füllen. Das war Naruanas Aufgabe, aber der war in
den letzten Tagen ungewöhnlich träge und zu nichts zu
gebrauchen gewesen. Oqqapia war da ganz anders, vielleicht, weil
sie es sich nicht erlauben konnte, faul zu sein. Ihre Arbeit war
nicht hochangesehen, aber trotzdem sehr wichtig. Alle drei Tage
leerte sie die Latrinen der Häuser und kippte den Inhalt ins
Meer. Viele Male ging sie mit den übelriechenden Eimern runter
zum Strand, und obwohl sie auf dem Rückweg leichter waren,
konnte sie nie mehr als zwei auf einmal tragen. Als sie mit diesem
Job vor drei Jahren angefangen hatte, hatte sie versucht, vier
Eimer gleichzeitig zu tragen, es aber bald aufgegeben, weil auf dem
Weg zu viel übergeschwappt war. Es gab keine andere
Möglichkeit, als öfter zu gehen, und wenn sie mal nicht
zur Arbeit erschien, bekam sie einiges zu hören. Dieselben
Leute, die sie dann ausschimpften, lobten sie nie, wenn alles wie
am Schnürchen lief. Oqqapia wünschte sich einen anderen
Job, aber niemand konnte sich vorstellen, sie abzulösen,
weshalb man die raren Arbeitsangebote vor ihr geheim
hielt.
Oqqapia würde nicht auch
noch den Wassertank auffüllen. Schließlich musste
Naruana auch seine Aufgaben erledigen. Wenn sie Wasser für ihn
holte, gewöhnte er sich daran, und in kürzester Zeit
würde es zu ihren Aufgaben gehören und er hätte gar
keine Pflichten mehr. Deshalb musste sie sich jetzt damit abfinden,
direkt aus der Saftpackung zu trinken. Jedes Mal, wenn sie die
klebrige Pappe an die Lippen führte, schlug ihr
säuerlicher Geruch entgegen. Der Saft war zwar noch in
Ordnung, aber kurz bevor die Flüssigkeit in ihren Mund floss,
wurde ihr schlecht. Wenn sie nur ein sauberes Glas
hätte.
Naruana erschien in der
Türöffnung. Sein schwarzes Haar war zu lang und
schmutzig, und obwohl seine nackten Schultern immer noch
muskulös waren, sahen sie längst nicht mehr so aus wie
damals, als er sich das erste Mal vor ihr ausgezogen hatte. Es war
nicht zu übersehen, dass das Leben den beiden
Weitere Kostenlose Bücher