Die eisblaue Spur
winzigen, bunten
Perlen besetztes Stofftuch. »Das hat meine Frau vor
dreißig Jahren gemacht. Aber sie hat es verloren. Gestern
habe ich es an einer Stelle gefunden, wo ich zu dieser Jahreszeit
oft bin.«
»Mir scheint, Sie kennen
sich hier von allen am besten aus. Können Sie mir die Gegend
beschreiben? Gibt es hier viele Eisbären?«
»Ich habe es Ihnen schon
gesagt. Sie hören mir nicht zu.« Der Mann wurde
wütend.
»Doch, ich habe
zugehört, aber es fällt mir schwer, es zu verstehen.
Dort, wo ich wohne, sprechen und denken wir anders. Unsere Seelen
schweifen nach dem Tod nicht umher.« Dóra wusste, dass
sie nicht mehr viel Zeit hatte. Der Mann spähte in alle
Richtungen, so als würde er sich orientieren. Für
Dóra bestand die Umgebung aus einer endlosen Eisfläche,
die entweder zu den Bergen oder zum Meer führte. »Wir
suchen zwei Männer und eine Frau aus dem Camp. Sie haben
gesagt, unsere Freunde würden nicht zurückkommen. Meinen
Sie die Verschollenen? Wollen Sie damit sagen, dass sie tot
sind?« Der Mann antwortete nicht, starrte nur in die Ferne.
»Sind sie tot?« Dóra bewegte sich zum ersten
Mal, seit sie stehen geblieben war. »Ich muss das
wissen.«
»Gehen Sie und sagen Sie
allen, sie sollen sich von hier fernhalten.« Er starrte ihr
in die Augen. »Wenn Sie das nicht tun, werden Sie es
bereuen.«
Anscheinend musste Dóra
zu anderen Mitteln greifen. »Was ist mit Ihrer Tochter
passiert? Mir wurde gesagt, dass sie hier gestorben
ist.«
Igimaq fixierte Dóra.
Seine Mundwinkel zuckten. »Meine Tochter geht Sie nichts an.
Sie ist nicht mehr hier.«
»Ist ihr dasselbe
zugestoßen wie den Leuten, die wir suchen?«
»Das werden Sie merken,
wenn Sie hierbleiben. Aber dann ist es zu spät.« Er
steckte das Perlentuch in seine Tasche und zog den Handschuh wieder
an. »Wenn Sie die Zeichen sehen, wissen Sie, was ich
meine.« Er ging an ihr vorbei. »Dann ist es zu
spät.«
»Was?« Jetzt wurde
Dóra langsam wütend. »Zeichen? Können Sie
das mal vernünftig erklären? Was für Zeichen?«
Der Mann ging einfach weiter, ohne sich umzuschauen. »Warum
sind Sie hergekommen?«, rief Dóra ihm nach.
»Um das zu tun, was ich
tun musste. Sie auffordern zu gehen.« Der Mann drehte sich
um. Sein Gesicht war jetzt vom Fellkragen seiner Kapuze eingerahmt.
»Aber Sie hören genauso wenig zu wie die Leute, die vor
Ihnen hier waren.«
»Haben Sie die
Satellitenschüsseln und den Motorschlitten
beschädigt?« Dóras Sprachkenntnisse waren so
begrenzt, dass sie die dänischen Begriffe nicht kannte. Sie
hoffte, dass die Dänen, wie bei technischen Wörtern
üblich, die englischen Begriffe einfach übernommen
hatten. Der Mann drehte sich ein letztes Mal um und schaute sie
verständnislos an.
Dóra sah ihm hinterher,
als er in die Nacht hinausging, völlig lautlos, so als
hätte er einen Pakt mit dem Schnee geschlossen, unter seinen
Füßen nicht zu knirschen. Als er zwischen den
Scheinwerfermasten hindurchging, schaltete sich das Flutlicht
wieder ein, aber er ließ sich von dem grellen Licht nicht aus
der Ruhe bringen. Erst, als Dóra ihn nicht mehr sehen
konnte, machte sie sich selbst auf den Weg. Bella hatte sie
garantiert nicht im Auge behalten. Der Mann hätte sie in der
Zwischenzeit schlachten und essen können, ohne dass ihr
Schutzengel einen Finger gerührt hätte. Obwohl sie
eigentlich froh darüber war, denn der Mann hätte sich
bestimmt aus dem Staub gemacht, wenn Bella aufgetaucht
wäre.
Dóra beschloss, ins
Wohngebäude zu gehen und Bella eine Weile mit der Sorge
über ihr Schicksal zappeln zu lassen. Sie wollte zu Matthias
und im Aufenthaltsraum noch etwas trinken, bevor sie wieder
zurückging. Dóra musste nicht lange suchen, denn
Matthias und Finnbogi kamen in den Vorraum gelaufen, als sie noch
dabei war, sich aus dem Overall zu schälen.
»Was ist los?«
Matthias stürzte zu ihr und hielt sie an der Schulter fest,
weil sie beim Entledigen des zweiten Hosenbeins fast hingefallen
wäre. »Ist was passiert?« Irritiert musterte er
das Kleid, sagte aber nichts. Als er sie das letzte Mal darin
gesehen hatte, waren sie im Theater gewesen.
»Tja, nicht direkt. Ich
bin diesem Igimaq begegnet. Er war hier, um uns zu sagen, dass wir
gehen sollen.«
»Was? Was hast du da
draußen gemacht?«
»Ich wollte euch warnen.
Das Flutlicht ist angegangen, und wir haben draußen einen
Mann gesehen. Er ist auf euer Haus zugegangen, und ich dachte, ihr
würdet schon schlafen.« Plötzlich wurde ihr klar,
wie
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