Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
Vom Netzwerk:
offen stattfand. Die meisten mochten
Arnar nicht, das war kein Geheimnis. Man hat sich über alles,
was er gesagt hat, lustig gemacht. Wenn man an freien Tagen was
zusammen unternommen hat, war kein Platz mehr für ihn. Kam gar
nicht in Frage, ein zusätzliches Auto mitzunehmen, und die
wenigen Male, die Arnar alleine hinter den anderen hergefahren ist,
wurde er einfach geschnitten. Er war dann an seinen freien Tagen
nur noch alleine unterwegs.«
    »Das klingt ziemlich
heftig.« Dóra hatte viele hässliche Geschichten
über Mobbing bei Kindern gehört, aber weniger bei
Erwachsenen. » War das schon vom ersten Tag an
so?«
    »Nee. Sonderlich beliebt
war er nie, aber am Anfang ging’s noch. Die Einsamkeit hat
keinen guten Einfluss auf die Leute, es ist immer schlimmer
geworden. Am Anfang hat es sich auf verstohlene Blicke
beschränkt, wenn Arnar was gesagt hat, das den anderen nicht
gefiel, aber am Ende hat es jeder mitgekriegt. Er hat immer allein
gegessen. Wenn er sich zu diesem Grüppchen gesetzt hat, das
ihn nicht ausstehen konnte, haben die sich an einen anderen Tisch
gesetzt. Wir anderen hatten keine Lust, in derselben Situation zu
landen, deshalb waren wir einfach feige und haben uns nicht zu ihm
gesetzt. Oddný Hildur war die Einzige, die irgendwie
reagiert hat. Sie konnte das nicht mehr mit ansehen. Ich war nicht
so anständig, hab nur an meine eigene Haut gedacht, obwohl ich
immer wieder versucht hab, freundlich zu ihm zu sein. Ich habe nie
mitgemacht, war nur ein stummer Zuschauer, aber das ist nicht viel
besser. Heute bereue ich das zutiefst, aber jetzt ist es zu
spät, wie so oft.«
    »Sie hat den Chef
darüber informiert«, sagte Dóra. »Kurz
bevor sie verschwand, hat sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt
und ihn gebeten, etwas zu unternehmen. Hat das irgendwas
gebracht?«
    »Nicht, solange ich hier
war. Ich hab ungefähr einen Monat nach Oddný Hildurs
Verschwinden gekündigt, aber in der Zeit ist nichts passiert.
Das Team stand ohnehin unter Schock, das kannst du dir ja
vorstellen. Deshalb wurde Arnar bei weitem nicht mehr so schlimm
gemobbt wie vorher.«
    »Ist es möglich, dass
jemand Oddný Hildur deshalb was angetan hat?«
Dóra versuchte, ihre Frage so vorsichtig wie möglich zu
formulieren, um die Frau nicht wieder aus der Fassung zu bringen.
Auch wenn sie im Moment ruhig wirkte, war sie immer noch instabil.
»Dass einer der Wortführer was von den E-Mails
mitgekriegt hat und ihr einen Streich spielen wollte? Vielleicht
wollte er gar nicht, dass sie sich verirrt, und es hat sich nur
unbeabsichtigt so entwickelt.«
    » Was meinst du?«
Röte schoss in Friðrikkas bleiche Wangen. »Dass sie
ermordet wurde?«
    »Nein, das würde ich
nicht unbedingt sagen.« Dóra bereute es bereits, sie
darauf angesprochen zu haben. »Ich dachte eher an einen
schlechten Scherz oder so, der aus dem Ruder gelaufen
ist.«
    Es verging eine geraume Zeit,
bis Friðrikka antwortete: »Nein. Das kann nicht sein. Ich
weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Alle waren
total überrascht. Keiner aus dem Team war ein so guter
Schauspieler, dass er das vorgetäuscht haben
könnte.« Sie schwieg wieder. »Ich hab
überlegt, ob einer aus dem Dorf ihr was angetan haben
könnte. Du weißt ja, dass Gewalt gegen Frauen in
Grönland an der Tagesordnung ist.«
    Dóra hielt es für
wahrscheinlicher, dass die Frau sich einfach bei einem Unwetter
verlaufen hatte oder von jemandem getötet worden war, der ihr
nahegestanden hatte. Es war einfach unrealistisch, dass jemand aus
dem Dorf bis zum Camp lief, in der Hoffnung, dort einer einsamen
Frau zu begegnen. Die Wahrscheinlichkeit, auf einen Mann zu
treffen, war viel größer. »Ich schätze mal,
das ist hier auch nicht anders als sonst wo. Opfer männlicher
Gewalt sind vor allem Ehefrauen und Partnerinnen.«
Dóra musterte Friðrikka forschend. »Hast du
gewusst, dass sich Oddný Hildur beim Chef beschwert
hat?«
    »Ja, das hat sie mir
anvertraut. Wir waren Freundinnen. Ich bezweifle, dass das sonst
noch jemand wusste. Sie hat das nicht rumerzählt, und der Chef
hätte bestimmt auch nicht darüber geredet, ohne sie zu
informieren.«
    »Wie hat Oddný
Hildur reagiert, als er nicht auf ihre Beschwerde eingegangen
ist?«
    »Sie war natürlich
enttäuscht, hat sich das aber nicht so anmerken
lassen.«
    »Weißt du, warum sie
nicht schon früher was unternommen hat? Ihr wart ja schon ein
Jahr hier, als sie die Mail geschrieben hat.«
    »Wie gesagt, das Mobbing
wurde immer schlimmer, und

Weitere Kostenlose Bücher