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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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übel
mitgespielt hatte. Den Spiegel über dem Waschbecken im Bad
hatte Oqqapia schon längst abgehängt. Es war schlimm
genug, mit dem Gefühl aufzuwachen, dass sich der Tod schon im
eigenen Leib eingenistet hatte – das musste man sich nicht
auch noch ansehen. Aber es ließ sich nicht lange
verdrängen. Oqqapia sah sich selbst und ihren Zustand in
Naruana gespiegelt.
    »Gib mir einen
Schluck.« Naruana streckte die Hand aus und nahm ihr die
halbleere Saftpackung ab. Er führte sie an die Lippen und
trank sie aus. Dann legte er sie auf den Küchentisch zu einem
Stapel leerer Bierdosen. »Alles leer?« Er brauchte ihr
nicht zu erklären, was er meinte. Dafür waren sie sich zu
ähnlich.
    Oqqapia nickte. »Du hast
gestern Abend die letzte Dose getrunken.« Sie hatte schon das
ganze Haus nach Bier abgesucht – ohne Erfolg. Sie erinnerte
sich zwar nicht wirklich daran, wer von ihnen das letzte Bier
getrunken hatte, vermutete aber, dass er es gewesen war. So war es
immer. Er hatte Vorrang, obwohl sie mehr zum Haushalt beitrug. Das
Bier hatten sie von dem Geld gekauft, das sie von der
Ausländerin bekommen hatte. Wenn sie das nicht gehabt
hätten, wäre der gestrige Abend ziemlich schrecklich
gewesen. Alkohol dämpfte die Gefühle und machte das Leben
erträglicher. Wenn irgendwann einmal alles gut wäre,
gäbe es keinen Grund mehr zu trinken. Aber wann sollte das
sein? Was musste dafür geschehen? Vor zwei Jahren hatte sie,
so wie die anderen Dorfbewohner, gedacht, durch den Bau des
Bergwerks würden bessere Zeiten eingeläutet. Endlich
würden sie und die anderen Arbeit finden und das Leben wieder
einen Sinn bekommen. Aufstehen, arbeiten, schlafen. Das war besser
als aufstehen, trinken und schlafen. Oqqapia konnte sich noch gut
an die Enttäuschung im Dorf erinnern, als sich herausstellte,
dass das Bergwerk in einem Gebiet gebaut werden sollte, das sie
schon als Kinder gelernt hatten zu meiden. 
    »Du hättest nicht mit
der Frau reden sollen.« Das sagte er jetzt. Als sie mit dem
Geld nach Hause gekommen war, hatte er sich nicht beklagt, sondern
war sofort zu Kajoq in den Dorfladen gelaufen, falls man das als
Laden bezeichnen konnte. Man wusste nie, ob Waren da waren, denn
das Lager wurde nur zweimal im Jahr aufgefüllt, im
Frühjahr und im Herbst. Frische Lebensmittel gab es nur ein
paar Wochen im Jahr, aber einer Sache konnte man sich sicher sein:
Kajoq hatte immer genug Alkohol auf Lager. Oqqapia konnte sich
nicht erinnern, dass es daran jemals gemangelt hätte.
»Du hättest nicht mir ihr reden sollen.« Naruana
wiederholte sich wie die alten Männer, die auf dem Steg am
Hafen saßen und den ganzen Tag dasselbe
herunterleierten.
    »Ich hab ihr nichts
erzählt. Ich hab ihr nur gesagt, sie soll mit deinem Vater
reden.« Oqqapia wusste, dass ihn das wütend machen
würde. Alles, was mit seinem Vater zu tun hatte, verletzte
ihn. Trotzdem sah sie keinen Grund, es ihm zu verschweigen. Als sie
klein war, hatte sie von einem Lehrer, der vorübergehend im
Dorf gearbeitet hatte, gelernt, immer die Wahrheit zu sagen, hatte
gelernt, dass Unausgesprochenes manchmal genauso irreführend
war wie echte Lügen. Aber was sollte man erwähnen und was
weglassen? Oqqapia versuchte trotz allem so gut es ging nach diesem
Motto zu leben, auch wenn viele andere Tugenden, die sie eigentlich
schätzte, bereits vor die Hunde gegangen waren.
    »Wie konntest du das nur
tun? Da hättest du sie ja gleich nach Hause einladen
können!« Naruana drehte sich vom geöffneten
Kühlschrank zu ihr. Er wurde immer wütender, und das
hatte nichts mit fehlender Cola oder Saft zu tun.
    Oqqapia errötete leicht.
Sollte sie ihm sagen, dass sie der Frau versprochen hatte, dass sie
bei ihr telefonieren könnte? Besser nicht. Vielleicht
würde die Frau ja gar nicht kommen, und wenn doch, war Naruana
vielleicht nicht zu Hause. Gut möglich, dass er unten auf dem
Steg oder bei jemandem zu Besuch wäre, der noch Bier
übrig hatte. »Stell dich nicht so an. Gestern warst du
noch ganz froh darüber.«
    »Ich bin nie froh. Das
solltest du wissen.« Er knallte die Kühlschranktür
zu, so dass die Marmeladengläser und diverse andere
abgelaufene Lebensmittel klapperten. »Ich will einfach nur
meine Ruhe vor diesem Pack. Und du redest einfach mit ihnen! Wenn
keiner mit ihnen spricht, fahren sie wieder weg, und alles wird so
wie früher.«
    Sie schwiegen. Wenn alles so
würde wie früher, dann hieß das sinnloses Saufen
und die Verachtung der anderen Dorfbewohner, die

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