Die eisblaue Spur
AA-Gruppe
gründen. Mehr weiß ich nicht, ich bin nie mitgefahren.
Ihr könnt ihn ja selbst fragen, wenn wir zurück in Island
sind.«
»Und was ist mit deiner
Freundin? Oddný Hildur? Hat sie dir nicht erzählt, dass
sie mal mit ihm ins Dorf gefahren ist?«
Friðrikka hob die
Augenbrauen, unter denen ihre Haut ebenfalls rot angelaufen war, so
als hätte sie roten Lidschatten auf die hellen Haare
aufgetragen. »Was?«
Dóra wiederholte ihre
Frage und überlegte, ob es sich doch um eine andere Frau
gehandelt haben könnte. Aber außer Friðrikka und
Oddný Hildur gab es keine Frauen im Team. »Kann sie
mitgefahren sein, ohne dass du davon wusstest?«
Die Geologin zögerte.
»Tja, kann ich mir kaum vorstellen, aber ich hab
natürlich nicht alle Sonntage mit ihr verbracht. Ich war mal
ein paar Tage krank, vielleicht ist sie da ins Dorf gefahren. Sie
hat das mir gegenüber jedenfalls nie
erwähnt.«
»Merkwürdig. Man
sollte meinen, dass ihr alle nach neuen Gesprächsthemen
gelechzt hättet.«
Alvar räusperte sich
vernehmlich. Normalerweise war er so zurückhaltend, dass er
kaum auffiel. »Gibt es hier vielleicht was zu trinken? Ich
hab ziemlichen Durst.«
Der Arzt schaute von seiner
Lektüre auf. »Ihr trinkt nichts von hier. Die
Getränke in dem kleinen Kühlschrank sind zu alt. Die
sollte man nicht trinken. Du musst dir draußen eine Handvoll
Schnee holen.«
Der Rettungsmann war offenbar
einiges gewohnt, denn er stand ohne zu murren auf und verließ
das Zimmer. »Gibt es sonst wirklich gar nichts?«,
fragte Bella. »Ich hab auch tierischen Durst, das merke ich
jetzt erst.« Sie schnaubte. »Aber ich hole mir bestimmt
keinen Schnee.«
»Dann wirst du eben weiter
Durst haben«, sagte der Arzt, ohne sie anzuschauen, und
vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Kurz darauf schlug er
das Buch zu und schob die Lesebrille auf seinen Kopf. Dort passte
sie viel besser hin, denn der eine Bügel war krumm, und die
Brille saß schief auf seiner Nase. »Matthias,
würdest du mal kurz mit rauskommen? Da haben wir mehr
Ruhe.« Friðrikka und Bella gingen offenbar nicht nur
Dóra auf die Nerven, die den Männern in den Flur
folgte.
»Ich weiß nicht, wie
viel ich vor den anderen sagen darf.« Finnbogi hatte die
Tür hinter sich geschlossen und war ein Stück in den Flur
gegangen. »Mein Gefühl sagt mir, dass man mit
Friðrikka besser nur Smalltalk machen sollte, sonst dreht sie
noch völlig
durch.«
»Hast du was
rausgekriegt?« Dóra verschränkte die Arme. In dem
kahlen Flur war es noch kälter als im
Konferenzraum.
»Ich bin noch nicht ganz
durch, aber ich glaube, ich hab das Wichtigste begriffen. Einiges
verstehe ich auch nicht auf Anhieb, und ich hab mich nicht in alle
Details eingelesen. Usinnas Arbeit geht weit über den Stand
einer Diplomarbeit hinaus, fachlich sehr
anspruchsvoll.«
»Hat es was mit dem Gebiet
hier zu tun?« Dóra war ungeduldig und wollte ihn davon
abhalten, die fachliche Seite ausführlicher zu
beleuchten.
»Ja und nein. Die
Untersuchung gründet sich auf die Theorie, dass bestimmte
Nahrungsmittelgifte Einfluss auf das Geschlecht von Föten
haben. Dabei handelt es sich um langlebige organische Schadstoffe,
die in der Natur überleben und in die Nahrungskette gelangen,
meist über das Meer. Je weiter man sich in der Nahrungskette
des Meeres befindet, umso größere Mengen dieser Stoffe
findet man. Beispielsweise das Insektenschutzmittel DDT, PCB, das
in Kühlflüssigkeit verwendet wird, Stoffe in
Brandbekämpfungsmitteln und andere chemische Stoffe, die
Einfluss auf die Hormondrüsen haben. Es ist schon lange
bekannt, dass Seehunde und Eisbären große Mengen dieser
Stoffe in sich tragen, wesentlich größere Mengen als
beispielsweise Plankton. Das Fleisch dieser Tiere ist das
Hauptnahrungsmittel der Inuit.«
»Hm, das nennt man wohl
Ironie des Schicksals, dass kaum jemand weniger Umweltverschmutzung
produziert als ausgerechnet die Inuit.«
»Allerdings. Man geht
davon aus, dass diese Stoffe, wenn sie in den ersten Wochen der
Schwangerschaft in erhöhter Menge im Körper vorhanden
sind, durch das Blut der Mutter auf das Kind übertragen
werden. Dort ähneln sie den Hormonen, die das Geschlecht des
Kindes bestimmen, und verhindern die Entwicklung von Jungen. Zahlen
über das Geschlechterverhältnis Neugeborener in
arktischen Regionen bestätigen diese These. Bei den Inuit in
Russland und Nordgrönland ist es nicht ungewöhnlich, dass
auf einen Jungen zwei Mädchen kommen.
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