Die eisblaue Spur
dem Eis beim Camp wohl eher wenige.
»Geburten von Menschen?« Vielleicht hatten sich ihre
Forschungen ja auch um Seehunde oder andere Säugetiere
gedreht.
»Ja. Hier sind seit vielen
Jahren keine Jungen mehr auf die Welt gekommen. Usinna wollte
herausfinden, warum.«
Dóra war sprachlos. Dann
fiel ihr plötzlich ein, dass sie auf ihrem Weg durchs Dorf nur
Mädchen gesehen hatten. Das konnte natürlich auch Zufall
sein, aber warum sollte sie Oqqapias Aussage anzweifeln.
»Hatte Usinna eine Theorie dafür?«
»Bestimmt, aber ich
weiß nicht, welche.« Die Frau starrte vor sich hin.
»Ich kriege sowieso keine Kinder, mir ist das ziemlich
egal.«
Matthias legte schwungvoll den
Hörer auf und drehte sich zu Dóra. »Gib mir doch
mal bitte das Notizbuch. Ich probiere mal die Nummer, die du
gefunden hast.« Dóra zog das Büchlein aus der
Tasche ihres Overalls. Matthias hob den Hörer wieder hoch und
wählte die Nummer. Dann machte er ein triumphierendes Gesicht.
»Es funktioniert! Ist
besetzt.«
»Wo ruft er jetzt
an?« Oqqapia hatte sie beobachtet, aber nicht verstanden, was
vor sich ging. Dóra reichte der Frau das aufgeschlagene
Notizbuch. Sie zeigte auf die Nummer und fragte, ob sie die kenne.
Oqqapia antwortete nicht, sondern fragte nur argwöhnisch:
»Woher habt ihr diese Nummer?«
»Das Notizbuch gehört
der verschollenen Frau. Kennst du die Nummer?«
»Ja.« Oqqapias
Vertrauen war mit einem Mal wie weggewischt. »Das ist
meine.«
»Immer noch
besetzt«, flötete Matthias gutgelaunt.
»Kein Wunder. Du rufst
gerade deine eigene Nummer an.«
»Du machst Witze.«
Er legte auf, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Dann fasste er sich wieder und schrieb die Nummer aus dem Notizbuch
zu der Polizeinummer auf seinen Zettel. Anschließend nahm er
den Hörer wieder ab und versuchte erneut, eine Verbindung
herzustellen.
Dóra grinste und wandte
sich wieder an Oqqapia. »Wie kommt deine Nummer in das Buch?
Hast du die Frau mal getroffen?«
»Gut möglich.
Weiß ich nicht mehr.« Oqqapia wich Dóras Blick
aus. »Ich weiß nicht, wie diese verschwundene Frau
aussah.«
»Du hast also eine Frau
aus dem Camp getroffen?« Dóra wurde plötzlich
ungeduldig. Das Sofa war unbequem, und sie schwitzte in dem dicken
Overall.
»Ja, aber ich weiß
nicht mehr, wie sie hieß. Ich hab sie nur einmal getroffen.
Ich weiß nur den Namen des Mannes, mit dem sie hier war. Der
kann euch bestimmt sagen, wer die Frau war.«
» Welcher
Mann?«
»Der AA-Mann.
Arnar.« Dafür, dass sie kein Isländisch konnte,
sprach sie den Namen sehr gut aus. »Er hat Naruana oft
besucht. Wollte ihm helfen, mit dem Trinken aufzuhören. Er hat
Bücher und Broschüren mitgebracht. Und einmal war eine
Frau dabei. Vielleicht die Verschollene. Das war ungefähr vor
einem halben Jahr. Sie haben nicht nur über die Sucht geredet.
Wenn ich mich recht erinnere, ging es auch um Usinna. Ich
weiß nicht, wie sie darauf gekommen sind, ich glaube, die
Frau hat sich nach einem Mädchen erkundigt, das mit ihr im
Flugzeug gesessen hat. Sie wollte wissen, wie es ihm geht, und dann
sind sie darauf gekommen, dass hier nur Mädchen geboren
werden. Die Frau wollte selbst ein Kind, vielleicht hat sie
geglaubt, das wäre ansteckend. Keiner will nur Mädchen
haben. In Grönland jedenfalls nicht, und im Ausland scheinbar
auch nicht.«
Dóra hielt es für
wahrscheinlicher, dass sich Oddný Hildur über andere
Dinge Gedanken gemacht hatte. Wenn Dóra noch ein Kind
bekäme, würde sie auch bei allem Unnatürlichen im
Zusammenhang mit Geburten aufhorchen. »Und Naruana hat mit
den beiden über seine Schwester gesprochen und ist nicht so
ausgerastet wie bei uns?«
»Arnar war Naruanas
Freund. Naruana hat ihm vertraut. Ich glaube, er war gerne mit ihm
zusammen, obwohl er gar nicht unbedingt mit dem Trinken
aufhören wollte. Er hat einfach gerne mit ihm geredet. Der
Mann war freundlich und hat unseren Lebensstil nicht
verurteilt.« Sie lehnte sich ein wenig zur Seite und zog
einen gefalteten Flyer aus ihrer Hosentasche. »Aber ich denke
drüber nach, das mal auszuprobieren. Ich möchte was
lernen, wie Usinna. Wenn ich aufhöre zu trinken, dann schaffe
ich das. Ich bin auch begabt.« Sie betrachtete den Flyer, so
als habe er magische Kräfte. Dóra konnte nur hoffen,
dass das stimmte. Die Frau schaute von dem Flyer zu Dóra und
bemerkte deren skeptischen Blick. »Lernen kann ich gut. Ich
habe Usinnas Bücher gelesen und verstehe
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