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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Und in manchen
Dörfern werden gar keine Jungen mehr geboren, was ja auch hier
der Fall zu sein scheint.«
    Matthias machte ein schockiertes
Gesicht. »Wie meinst du das mit den Hormonen? Findet da ein
Geschlechtswandel statt?«
    »Nein, nicht direkt. In
den ersten Wochen unterscheiden sich männliche und weibliche
Föten nicht voneinander. Die Geschlechtsorgane bilden sich aus
denselben Zellen, das ist ganz normal. Historisch betrachtet wurden
schon immer mehr Mädchen als Jungen geboren, aber die
Differenz war sehr gering. Und jetzt steigt sie weltweit. Bei den
Unterlagen war ein Artikel, in dem steht, dass heute jährlich
zweihundertfünfzigtausend Jungen weniger geboren werden als
1970. Die Ursachen für diese Entwicklung wurden noch nicht
erforscht, aber die langlebigen organischen Schadstoffe
könnten dabei eine Rolle spielen. Natürlich verursachen
sie auch noch weitere Umweltschäden, aber bei
Jagdvölkern, wo die Männer für die
Nahrungsbeschaffung zuständig sind, ist diese
Geschlechterproblematik eine sehr ernste Sache.«
    »Und anderswo auch«,
ergänzte Dóra. »Eine Beeinflussung des
Geschlechterverhältnisses ist schließlich auch in
anderen Gesellschaften unerwünscht.« 
    »Ja, natürlich. Aber
es handelt sich bislang nur um eine Theorie. Usinnas Forschungen
sollten dazu beitragen, sie zu untermauern.«
    »Wie macht man
das?«, fragte Matthias. »Ist es nicht Beweis genug,
wenn in einem ganzen Dorf nur Mädchen auf die Welt
kommen?«
    Finnbogi lächelte
väterlich. »Das allein sagt noch nichts über eine
Verbindung zwischen den Schadstoffen und dem
Geschlechterverhältnis aus. Es könnte auch ganz andere
Ursachen haben. Um das nachzuweisen, muss man Blutproben der
Mütter dieser Mädchen nehmen, und das hat Usinna unter
anderem gemacht.«
    Das war die Erklärung
für Oddný Hildurs Notizbucheintrag. Usinna. Blutproben.
»Und konnte sie es nachweisen? Hat sie diese Blutproben
genommen?«, fragte Dóra.
    Der Arzt holte tief Luft, bevor
er weitersprach: »Ich habe eine Liste mit Namen von
Müttern gefunden. Sie sind alle abgehakt. Wahrscheinlich hat
Usinna die Blutproben genommen, aber bei den Unterlagen sind keine
Ergebnisse. Wahrscheinlich hatte sie vor Ort nicht die technische
Möglichkeit, die Stoffe im Blut nachzuweisen. Ich weiß
nicht, ob sie die Proben anderswo gelagert hat. Aber das spielt
auch keine so große Rolle. Man kann ja immer wieder neue
Proben nehmen.«
    »Also hilft uns das Ganze
nicht weiter?«, fragte Dóra enttäuscht.
»Und warum hat Usinna das verbotene Gebiet betreten? Wohl
kaum, um nach Müttern zu suchen.«
    »Ich bin noch nicht
fertig.« Der Arzt schaute sie ungeduldig an. »Usinna
hat versucht, die Leichen der ersten Siedler zu finden, die Anfang
des vorigen Jahrhunderts hier gestorben sind. Sie wollte beweisen,
dass die Menge der Schadstoffe im Blut gestiegen ist. Die Siedler
müssen hier in der Gegend bestattet worden
sein.«
    Matthias und Dóra
starrten den Arzt an. Nach einer Weile fand Matthias als Erster die
Sprache wieder: »Im Blut? Das sind doch nach all den Jahren
nur noch Skelette.«
    Der Arzt zuckte die Achseln,
wobei ihm die Brille fast auf die Nase rutschte. Er fing sie auf
und schob sie wieder auf seinen Kopf. »Ich habe Ausdrucke von
E-Mails zwischen Usinna und ihrem Professor an der Uni gefunden.
Daraus geht hervor, dass sie Grund zu der Annahme hatte, dass
einige Siedler nicht bestattet werden konnten. Sie starben mitten
im Winter und wurden einfach im Schnee vergraben. Sie scheint
gewusst zu haben, wo sich diese behelfsmäßigen
Gräber befinden, beschreibt den Standort aber nicht genau. Ich
habe es so verstanden, dass die Toten auf Eis gelegt wurden, falls
man das so sagen kann, und im Frühling dann ihre letzte
Ruhestätte finden sollten. Usinna war offenbar der Meinung,
die ersten Siedler seien nie richtig bestattet
worden.«
    »Es gab keinen
Frühling.« Dóra erinnerte sich an das Buch aus
dem Wohntrakt. »Zumindest nicht für die Siedler.
Diejenigen, die die anderen bestatten sollten, sind auch gestorben.
In dem Artikel stand, dass einige Leute fehlten, darunter auch ein
Säugling und seine Mutter. Vielleicht hat Usinna gehofft, die
zu finden.«
    »Ich verstehe das nicht
ganz.« Matthias hatte dem Gespräch gelauscht und wirkte
nachdenklich. »Wie konnte Usinna von diesem Bestattungsort
wissen, wenn alle gestorben sind? Du hast mir doch erzählt,
Dóra, dass nach Einbruch des Winters keiner mehr was von den
Leuten gehört hat, oder? Wie kann sie

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