Die eisblaue Spur
dann wissen, dass einige
Leichen im Schnee oder Eis vergraben wurden? Und an welcher
Stelle?«
Weder Dóra noch der Arzt
wussten darauf eine Antwort. »Wie dem auch sei, ich glaube,
das ist die Erklärung für die Knochen in den
Schreibtischschubladen«, sagte Finnbogi.
»Du meinst, die Knochen
stammen von jemandem, der vor hundert Jahren gestorben ist? Der
kann aber nicht mehr viel Blut gehabt haben.«
»Nein, aber das Eis ist in
den letzten Jahren zurückgegangen. Was früher tief im Eis
verborgen war, kann an die Oberfläche gekommen sein. Deshalb
sehen die Knochen jünger aus. Möglicherweise sind noch
mehr Leichen im Eis verborgen. Die Hand auf dem Foto könnte
beispielsweise von einer Leiche stammen, die tiefer eingegraben war
und daher noch gefroren ist.«
»Und was bedeutet
das?« Dóra hatte plötzlich Kopfschmerzen.
Früher oder später würde sie eine Tablette nehmen
müssen und sich nicht davor drücken können, sie mit
einer Handvoll geschmolzenem Schnee hinunterzuspülen.
»Wenn hier überall Leichen rumliegen, ist es kaum
verantwortbar, die Projektarbeiten fortzusetzen.«
Matthias’ Gesicht hellte
sich auf. »Natürlich! Gilt das nicht als
archäologischer Fund?«
Dóra war sich nicht ganz
sicher, hielt das aber durchaus für möglich.
»Hoffentlich. Ich glaube, wir haben hier eine gute Grundlage,
um mit Arctic Mining über einen Aufschub zu verhandeln.«
Sie atmete erleichtert auf, wobei ihr gleichzeitig klar wurde, was
für eine absurde Situation das war. »Wir können nur
hoffen, dass Oddný Hildur und die Bohrmänner beim
Durchforsten des Geländes gefunden werden. Ich habe so meine
Zweifel, ob die Mitarbeiter von Bergtækni sonst
zurückkehren werden. Und wenn sie sich weigern, hilft uns kein
Aufschub dieser Welt. Dann können wir das Projekt
vergessen.«
»Es wäre sehr
aufschlussreich, wenn ich mir den Mann im Kühlraum noch mal
anschauen könnte. Ich habe ihn ja nur ganz kurz gesehen, und
wenn die Polizei erst mal hier ist, haben wir dazu keine
Gelegenheit mehr, und wer weiß, ob wir alle notwendigen
Informationen bekommen.«
»Informationen?«
Matthias vermutete, dass der Arzt die Situation für seine
eigenen Zwecke nutzen wollte und dass sich hinter seiner Sorge
über die Interessen der Bank pure medizinische Neugier
versteckte. »Was für Informationen sollten wir über
diese Leiche brauchen, die die Polizei uns nicht geben
kann?«
Der Arzt bemerkte
Matthias’ Misstrauen. »Bei Usinnas Unterlagen war noch
was ... Anweisungen zur Vermeidung von Vogelgrippe.« Der Arzt
machte eine kurze Pause und schaute die beiden eindringlich an.
»Ich will das ja nicht überinterpretieren, aber ich
denke, die Bohrmänner könnten sich vielleicht damit
infiziert haben. Soweit ich informiert bin, sind so weit
nördlich bisher keine Fälle aufgetreten, aber
möglich wäre es durchaus. Vielleicht ist der Mann im
Kühlraum auch an Vogelgrippe gestorben. Ich würde ihn mir
einfach gerne noch mal anschauen und versuchen, die Todesursache
festzustellen. Grönland hat durch seine isolierte Lage eine
ungewöhnliche Geschichte, was Epidemien betrifft. Noch 1962
hat sich ein Drittel der Bevölkerung mit Masern infiziert, die
hier vorher nicht aufgetreten waren. Es könnte sich also
durchaus um eine ernsthafte Krankheit handeln, die sich in diesem
Gebiet zum ersten Mal ausgebreitet hat. Ich weiß nicht genau,
welche, aber die Vogelgrippe würde der Bevölkerung
natürlich schwer zusetzen.«
»Hm.«
»Man muss nur an die
Spanische Grippe denken, die Ende des Zweiten Weltkriegs hundert
Millionen Menschen auf der ganzen Welt dahingerafft hat. Sie ist
nicht bis hierher gekommen, aber ich kann mir gut vorstellen, was
für Auswirkungen sie gehabt
hätte.«
»Das kann ja sein, aber
die Bohrmänner sind nicht an Vogelgrippe gestorben«,
sagte Dóra bestimmt. »Wo sind ihre Leichen, wenn sie
an einer Krankheit gestorben sind? Und außerdem gibt es hier
keine Vögel. Ich hab jedenfalls keinen einzigen
gesehen.«
»Sie könnten
infiziertes Geflügel gegessen haben.« Der Arzt schaute
zu Matthias. »Wir sollten die Sache untersuchen. Wir waren ja
ohnehin schon im Kühlraum und haben vielleicht aus Versehen
Spuren verwischt.«
Schließlich ließ
sich Matthias darauf ein.
Als sie die Plastikfolie von der
Leiche im Kühlraum hoben, war klar, dass der Mann nicht an der
Vogelgrippe gestorben war.
In seinem Brustkorb klaffte ein
großes Loch, durch das man den blauen Fußboden
Weitere Kostenlose Bücher