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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

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Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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konnte.

24.
Kapitel
    22. März 2008
    Das Hotel in Kulusuk ließ
sich nicht gerade als luxuriös bezeichnen, aber es war sauber
und ordentlich, und – was am wichtigsten war – es hatte
eine Dusche. Dóra hoffte, dass das heiße Wasser nicht
allzu teuer war, denn sie wollte gar nicht mehr unter dem
Wasserstrahl hervorkommen. Die Seife schäumte auf dem Boden
der Dusche, und irgendwann gab Dóra es auf, sich den
imaginären Schleim vom Körper zu schrubben. Sie
fühlte sich, als würde die ganze Widerwärtigkeit des
Camps an ihr kleben. Wenn es ihr gelänge, sie abzuwaschen,
wäre auch die Erinnerung an das Loch im Körper des Mannes
im Kühlraum für immer getilgt. Vorher nicht. Sie wusste,
dass sie sich das nur einbildete, weil sie müde und hungrig
war, aber das änderte nichts daran, dass sie sich viel
länger wusch als nötig. Am Ende hatte sie keine Energie
mehr, ließ die Seife fallen, stand mit geschlossenen Augen da
und ließ das Wasser an sich abperlen. Endlich gab sie sich
einen Ruck und drehte den Hahn zu. Anschließend wickelte sie
ihren dampfenden Körper in ein großes Handtuch und bekam
von der kühlen Luft, die durchs Badezimmerfenster drang,
sofort eine Gänsehaut. Zum Glück hatte sie es offen
stehen lassen, sonst wäre sie jetzt in einem Dampfbad.
Während Dóra ihr Haar abtrocknete, spähte sie ins
Zimmer, wo Matthias schlafend auf dem gemachten Bett lag. Das war
also die Erklärung dafür, dass er sich nicht über
ihr langes Duschen beschwert hatte. Es war schon spät, und die
Stunde, die sie vor dem Abendessen zum Ausruhen bekommen hatten,
war längst vorbei. Abendessen war allerdings nicht das
richtige Wort – Mitternachtssnack hätte besser gepasst.
Der Tag war endlos gewesen, und sie hatten überhaupt keine
Zeit gehabt, etwas zu essen. Seit sie vom Kühlraum zurück
zum Bürogebäude gegangen waren, war so viel passiert,
dass solche Nebensächlichkeiten wie Essen in Vergessenheit
geraten waren.
    Die Polizei war eine Stunde,
nachdem Dóra, Matthias und Finnbogi von ihrer Expedition zum
Kühlraum zurückgekehrt waren, eingetroffen. Dóra
war von dem, was sie unter der Plastikfolie gesehen hatte, so
geschockt gewesen, dass sie sich im Konferenzraum erst einmal
hinlegen musste. Sie bereute es, nicht auf Matthias gehört und
vor dem Kühlraum gewartet zu haben, während die beiden
Männer den toten Mann begutachteten. Das Loch in der Leiche
war so unwirklich, dass es eine Weile dauerte, bis sie begriff, was
sie da eigentlich über Matthias’ und Finnbogis Schultern
hinweg gesehen hatte. Die Wunde war sauber und an den Rändern
nirgendwo eingerissen, was man bei einer solchen Verletzung
eigentlich annehmen würde. Das Merkwürdige war, dass
gerade die Sauberkeit das Loch so unheimlich machte. Der Mann sah
aus wie eine Comicfigur, die von einer Kanone durchlöchert
worden war – nur, dass es überhaupt nicht witzig war.
Dóra war nicht die Einzige, die das alles ziemlich
unappetitlich fand; auch die Polizisten aus Angmagssalik hatten
kein einziges Mal gelächelt. 
    Während Dóra einen
Rock und eine hübsche Bluse anzog, dachte sie an die
Vernehmungen der Polizei. Sie waren zu fünft mit demselben
Hubschrauber gekommen, der auch Dóras Gruppe ins Camp
gebracht hatte. Zwei Piloten und drei Polizisten, zwei
grönländische und ein dänischer. Der eine
Grönländer hatte Dóra verhört, und obwohl er
sehr höflich war, hätte sie gern auf diese Erfahrung
verzichtet. Sie war ein paar Mal bei ähnlichen Vernehmungen
dabei gewesen, allerdings immer als Anwältin. Im Grunde war es
sehr lehrreich, selbst verhört zu werden, aber das würde
sie wahrscheinlich erst später zu schätzen wissen. Sie
hatte sich genauso verhalten wie die meisten ihrer Mandanten, hatte
Ausflüchte gemacht und impulsiver reagiert als nötig, um
zu beweisen, dass sie nichts verbrochen hatte. Die ganze Zeit war
sie davon überzeugt gewesen, dass der Polizist sie
verdächtigte, den Mann im Kühlraum umgebracht zu haben
und für die Knochen im Bürogebäude und das
Verschwinden der drei Isländer verantwortlich zu sein. Und das
nur wegen ihres schlechten Gewissens, weil sie entgegen der
Anweisung der Polizei den Kühlraum betreten hatten.
Dóra traute sich durchaus zu, konkreten Fragen danach
auszuweichen, aber bei dem Arzt war sie sich da nicht so sicher.
Matthias würde ihr kleines Vergehen bestimmt nicht beichten,
aber sie kannte Finnbogi nicht gut genug, um zu wissen, wie er sich
unter Druck verhalten würde.
    Am Ende

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