Die eisblaue Spur
Grönländer sein, stammten
wahrscheinlich von der Westküste und waren mit den
Gegebenheiten diesseits des Gletschers nicht vertraut. Sie
würden Igimaq nicht verstehen, auch wenn er versuchte, ihnen
die Geschichte der Gegend nahezubringen. Was für
bedauernswerte Menschen – Grönländer, die ihre
eigene Sprache nicht mehr sprachen. Jedenfalls würden sie
alles durcheinanderbringen und falsch interpretieren. Vielleicht
war es am vernünftigsten, zu verschwinden, die Hunde zu holen
und weiter nach Norden zu fahren. Er konnte die Polizisten mit
Leichtigkeit abhängen. Wie sehr sie auch versuchen
würden, ihn zu kriegen – am Ende würden sie
aufgeben. Igimaq konnte problemlos monateoder jahrelang fern jeder
Siedlung leben, er kannte Orte, zu denen nur erfahrene
Hundeschlittenführer gelangten. Igimaq wäre schon
längst auf dem Meeresgrund gelandet, wenn er einen
Motorschlitten hätte. Seine Hunde kannten das Eis und wussten,
wo es sicher war. Sie hörten Risse in der Eisoberfläche,
die der Mensch weder sehen noch hören konnte. Und diese Risse
waren die Vorboten größerer Risse, die zu
Eislöchern wurden, durch die man ins eiskalte Meer fiel, das
keinen verschonte.
Wenn er führe, käme er
nie mehr zurück. Das war klar. Igimaq hatte sich schon lange
vorgenommen, sein Leben auf diese Weise zu beenden, alles
zusammenzupacken, mit den Hunden nach Norden zu fahren und die
Siedlungen zu meiden. Er würde es darauf ankommen lassen und
wahrscheinlich ein paar Jahre überleben. Solange die Hunde
lebten, lebte er auch. Igimaq hatte oft die Geschichte von den
dänischen Kartographen gehört. Auf ihrer Fahrt durch
Nordostgrönland war ihnen die Nahrung ausgegangen und sie
mussten ihre Hunde essen. Mit dem letzten Hund schwand jegliche
Hoffnung, und sie starben, ohne in besiedelte Gebiete gelangt zu
sein. Ihr einheimischer Führer kam am weitesten, und bei ihm
fand man ein Tagebuch, in dem das Drama detailliert beschrieben
war. Igimaqs Vater hatte ihn einmal zu einem Freund mitgenommen,
der lesen konnte. Der hatte ihm aus dem Tagebuch vorgelesen, damit
er aus den Fehlern dieser Leute lernte. Und das hatte seine Wirkung
nicht verfehlt; Igimaq würde eher verhungern, als seine Hunde
zu essen.
Nein, noch würde er nicht
fahren. Er musste bleiben und seine Pflicht tun, auch wenn ihm
nicht klar war, wie er das anstellen sollte. Igimaq starrte in den
sternenklaren Himmel und versuchte, in den Sternen die Tiere zu
erkennen, die Leute in anderen Ländern angeblich sahen. Es
gelang ihm nicht, doch auf einmal hatte er eine Idee. Er musste
Usinna holen und wegschaffen. Er war nicht der Einzige, der
für ihren Tod verantwortlich war. Sikki und Naruana würde
es bestimmt nicht so leichtfallen wie ihm, zu verschwinden. Igimaq
war ein Mann. Er würde andere nicht für seine Taten
büßen lassen.
27.
Kapitel
23. März 2008
Draußen in der Dunkelheit
pfiff der Wind, aber im Hotel war es warm und gemütlich. Das
Frühstück war ausgezeichnet, kein Vergleich zu dem
Fraß, mit dem sie sich in den letzten Tagen begnügt
hatten. Bella war die Einzige, die meckerte. Sie war sauer, weil es
im Hotel nur Nichtraucherzimmer gab. »Also echt, wir sind in
Grönland! Wir können rausgehen und alles, was uns
über den Weg läuft, abknallen. Wir können in diesem
Hotel alles tun, wozu wir Lust haben, außer Rauchen. Das ist
totaler Schwachsinn!« Sie stand umständlich auf, nahm
ihren schwarzen Pulli und stolzierte hinaus.
»Hat jemand was von der
Polizei gehört?« Der Arzt tupfte sich mit einer
weißen Papierserviette den Mund ab und legte sie auf seinen
Teller. »Dürfen wir heute
abreisen?«
»Nein, wahrscheinlich
haben sie dieselben Probleme wie wir und kriegen keine Verbindung.
Es sei denn, sie haben ein Satellitentelefon.« Dóra
schaute auf die große Uhr an der Wand des Speisesaals.
»Es ist kurz nach acht, sie haben bestimmt gerade erst
angefangen.« In Island war es zwei Stunden später, und
alle waren schon bei der Arbeit. Sie konnten also die Zeit nutzen
und die Bergtækni-Mitarbeiter in Island befragen, aber sie
mussten vorsichtig sein. Meistens war es besser, persönlich
mit den Leuten zu reden, und wenn die Telefonate schlecht
verliefen, gab es vielleicht keine Gelegenheit mehr, etwas aus
ihnen herauszubekommen. »Wie ist dieser Arnar
eigentlich?«, fragte Dóra Friðrikka, die ihr
gegenüber saß. »Was meinst du, wie er es aufnehmen
würde, wenn ich ihn anrufe und ihm ein paar Fragen stelle?
Vielleicht kann er
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