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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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ich damals da war,
haben sie mir erzählt, dass man dort Gefahr läuft, sich
zu verirren. Angeblich gab es einen Mann, der die Geschichte nicht
geglaubt und das Gebiet trotz aller Warnungen betreten hat. Er
wurde nie mehr gesehen. Ich weiß nicht, wann das gewesen sein
soll. Es war halt so eine Geschichte von einem jungen Jäger,
der gemeint hat, er wäre ein echter Kerl. Aber am Ende musste
er sich den Geistern beugen.«
    »Den Geistern? Keine
wilden Tiere, Gletscherspalten oder so?«
    »Nein, nein, die Seelen
der Menschen, die dort gestorben sind, irren umher.« Das
Mädchen blieb völlig ernst. Ihr Gesicht erinnerte
Dóra ein wenig an die junge Frau im Dorf, bei der sie
telefoniert hatten, nur, dass das Mädchen jünger war und
einen anderen Weg im Leben eingeschlagen hatte.
    »Ich habe im Zusammenhang
mit dem Gebiet von mysteriösen Zeichen gehört. Wissen Sie
etwas darüber?«
    »Ja, die Geister markieren
die Leute, die sie zu sich holen wollen. Gesehen habe ich das noch
nie, nur davon gehört.«
    »Und was sind das für
Zeichen?« Dóra sah eine gebrandmarkte Stirn mit einem
schwarzen, rauchenden Kreuz vor sich. 
    »Es hängt irgendwie
mit dem Gesicht und den Sinnesorganen zusammen. Das Blut soll den
Körper durch Augen, Mund und Nase verlassen. Sogar durch die
Ohren. Das Gesicht läuft blau an, und wenn man kein Blut mehr
hat, folgt man den Geistern ins Eis auf einer blauschimmernden
Spur, wie eine Ader im Schnee.« Das Mädchen stellte die
fast volle Kaffeekanne auf den Tisch. »Das muss ein
schrecklicher Tod sein. Deshalb ist es den Dorfbewohnern so
wichtig, dass sich die Leute von dem Gebiet fernhalten. Sie
möchten nicht, dass irgendjemand so stirbt. Außerdem
sind sie den Verstorbenen gegenüber verpflichtet, das Verbot
einzuhalten.«
    »Inwiefern?«
Dóra vermutete, dass nun eine Geschichte über
Wiedergänger folgte, die einen im Traum heimsuchten.
»Sind denn nicht alle gestorben? Wie wurde diese Botschaft
übermittelt?«
    »Nein, es sind nicht alle
gestorben. Einer hat überlebt.«
    »Einer hat
überlebt?«
    »Ja, das hat man mir so
erzählt. Er hat nicht wirklich überlebt, es aber weit
genug Richtung Süden geschafft, um auf andere Menschen zu
stoßen. Die haben den Angekkok, so eine Art Schamanen, aus
ihrem Dorf geholt, und die beiden haben miteinander gesprochen. Der
Mann soll dem Angekkok gesagt haben, welches Gebiet man meiden
muss. Dann hat er ihm das Versprechen abgenommen, darauf zu achten,
dass niemand dorthin geht. Ich weiß nicht, was er ihm sonst
noch gesagt hat, das erfahren nur
Auserwählte.«
    »Und wer sind diese
Auserwählten?«
    »Die Nachkommen des
Schamanen. Seine Söhne und deren Söhne. Ich glaube, der
oberste Jäger im Dorf gehört auch dazu. Diese Leute sind
sogar später nach Norden gezogen, um näher an dem Gebiet
zu sein und ihren Pflichten besser nachkommen zu können. So
entstand das Dorf Kaanneq. Die Leute hatten gehört, dass man
die Bevölkerung auffordern würde, weiter nach Norden zu
ziehen, und sie wollten sichergehen, dass sich niemand in dem
Gebiet ansiedelt, wo die Geister sind. Je mehr Seelen die Toten zu
sich holen, umso mächtiger werden sie.«
    »Woher wissen Sie das
alles? Ich habe ein bisschen darüber gelesen, aber nirgendwo
stand, dass noch Kontakt zu den ersten Siedlern bestand. Es gab nur
eine Beschreibung, dass eine Gruppe Jäger einen oder zwei
Dorfbewohner draußen auf dem Eis gesehen hätte. Die
wären dann aber geflohen und nie mehr gesehen
worden.«
    »Ja, das war der Mann,
aber er war alleine. Nachdem er seine Botschaft übermittelt
hatte, verschwand er wieder. Als die Geschichte niedergeschrieben
wurde, war das, was er dem Schamanen anvertraut hatte, ein
großes Geheimnis. Man fürchtete sich vor der Rache der
Geister, falls es bekannt würde. Deshalb hat man mit Fremden
nicht darüber gesprochen. Die meisten glaubten, einer der
ersten Siedler hätte aus Rache einen Tupilak angefertigt, der
sich erst gegen seinen Schöpfer und dann gegen alle, die in
Kaanneq lebten, richtete. Früher durfte man noch nicht einmal
an einen Tupilak denken, ohne Gefahr zu laufen, zu
sterben.«
    »Ein Tupilak?«
Dóra erinnerte sich an die kleine Figur, die sie im
Bohrwagen gefunden hatten. »Ist das eine Figur aus Knochen,
die Grimassen schneidet?«
    »Ja, genau. In der Lobby
gibt es Informationsmaterial darüber, auf dem Plakat beim
Eingang. Natürlich glaubt niemand mehr daran, aber es sind
beliebte Mitbringsel. Deshalb sieht die Sache heutzutage

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